Wenn der Kontakt abbricht

Verlassene Eltern rufen eine Selbsthilfegruppe ins Leben

Der Blick ins Familienalbum erinnert das Ehepaar M. an das Familienglück von einst.	Foto: cr

Der Blick ins Familienalbum erinnert das Ehepaar M. an das Familienglück von einst. Foto: cr

München · Margot M. leidet. Ihr Sohn hat den Kontakt zu ihr und ihrem Mann abgebrochen. Für die 80-jährige Münchnerin ein unerträglicher Zustand, denn sie kennt den Grund nicht. Margot M. ist eine resolute und willensstarke Persönlichkeit. Doch wenn sie sich fragt: »Warum?«, dann kann sie die Tränen nur schwer zurückhalten.

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Familie M. ist kein Einzelfall. Ganz im Gegenteil: In Deutschland gibt es Schätzungen zufolge rund 100.000 Fälle, in denen erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen haben. Umgerechnet sind es in München wahrscheinlich mehrere hundert Familien, die dieses Schicksal teilen – bisher im Stillen, doch Margot M. will das ändern. Sie hat in den vergangenen Wochen alle Hebel in Bewegung gesetzt, um eine Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern ins Leben zu rufen. Unterstützt wurde sie von ihrem Mann und von Ulrike Zinsler vom Selbsthilfezentrum München. Margot M. wollte lieber früher als später starten und so hat das erste Treffen bereits in dieser Woche stattgefunden. Weiter geht es im Zwei-Wochen-Rhythmus, immer am Freitag um 15 Uhr im Stadtteilladen Giesing, Tegernseer Landstraße 113. Das nächste Treffen findet am 3. August statt.

Dort können Margot und Wilhelm M. ihre Geschichte erzählen und ähnliche oder ganz andere Geschichten hören, die alle dasselbe Ende haben: Das eigene Kind hat den Kontakt zu den Eltern abgebrochen. In der Gruppe mit anderen Betroffenen ist es leichter, über das Erlebte zu reden. »Man darf was rauslassen, man darf auch weinen«, nimmt Ulrike Zinsler den Druck für die Teilnehmer raus. Es gehe darum, sich von den ganz persönlichen Ereignissen und Schicksalen nicht unterkriegen zu lassen. Die Teilnehmer können sich gegenseitig aufbauen und Kraft geben. Das ist genau das, was Margot M. gefehlt hat. »Ich gehe mit dem Gedanken an meinen Sohn ins Bett und stehe damit auf«, erzählt sie. Aufstehen, nicht selten nachts um halb zwei. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Die Situation ist erdrückend. »Das macht mich kaputt.« Gerne würde sie wieder mit ihrem Sohn umgehen können wie bis vor einem halben Jahr. Damals begann er sich zurückzuziehen. Er ging nicht mehr ans Telefon und ließ mitteilen, dass er die Briefe seiner Mutter nicht mehr öffne. Auch Wilhelm M. kommt an seinen Sohn, ein Wunschkind, wie beide betonen, nicht mehr ran. Für die gesundheitlich angeschlagenen Eltern ist es nicht ohne Weiteres möglich, ihren Sohn zu besuchen, der nördlich von München wohnt. Wahrscheinlich würde es auch nichts nutzen.

Es ist noch gar nicht lange her, da war der Sohn immer sonntags bei seinen Eltern zum Mittagessen. »Wir haben ein super Verhältnis gehabt. Er ist eigentlich ein richtiger Familienmensch«, erzählt Margot M. Vor zwei Jahren habe er seinen Eltern geholfen, als der Vater im Krankenhaus war und die Mutter seine Hilfe gut gebrauchen konnte. Bei seinen Besuchen am Krankenbett habe sich der Sohn so ­liebevoll um seinen Vater gekümmert, dass selbst die Pfleger und Schwestern anerkennend gesagt hätten, so viel Fürsorge hätten sie noch nicht gesehen. Doch seitdem habe sich einiges verändert. Margot M. vermutet, ihr Sohn ist mit seinem Leben unzufrieden. Der Kontaktabbruch sei vielleicht ein Ergebnis daraus. Seitdem erlebt sie eine emotionale Berg- und Talfahrt. Margot M. ist stark und resolut, doch die Kraftreserven werden kleiner. In schweren Momenten überkommen sie Ratlosigkeit und Verzweiflung. Dennoch gibt sie nicht auf. »Ich kämpfe dagegen, mich fallen zu lassen.« All das und noch mehr wird Margot M. erzählen, sich von der Seele reden, was sie belastet. Reden ist auch Therapie. Vielleicht tritt dadurch der Auslöser des Kontaktabbruchs zu Tage. Aber das muss jeder für sich selbst so erkennen. Die Selbsthilfegruppe ist kein Raum für Vorwürfe. »Jeder bleibt bei sich«, betont Ulrike Zinsler, die die ersten Treffen moderiert, bevor diese Aufgabe eine Teilnehmerin oder ein Teilnehmer aus der Mitte der Betroffenen übernimmt. Zuhören, da sein, helfen – das allein gibt den Betroffenen viel Kraft. Es soll eine Kontaktliste geben, damit sich die Teilnehmer untereinander erreichen können, wenn sie sich gegenseitig brauchen. Alles ganz unverbindlich natürlich. Niemand muss zum Seelentröster werden, wenn ihm oder ihr das zu schwierig erscheint. Im besten Fall sollen alle Teilnehmer von den Treffen und den Gesprächen profitieren und das muss nicht ausschließlich alle zwei Wochen freitags sein, wenn es nach Margot M. geht. Sie kann sich auch gemeinsame Unternehmungen vorstellen, in denen ihre Schicksale nicht im Vordergrund stehen. Denn eins kann die Selbsthilfegruppe nicht erreichen und das weiß auch Margot M.: »Wir können die Kinder nicht zurückholen.« Das Selbsthilfezentrum informiert unter Tel. 53 29 56-11 und 53 29 56-0 über die neue Gruppe und beantwortet alle Fragen. Für Margot M. ist die Sache klar. Es gibt nur eine Hilfe und das ist Selbsthilfe: »Es muss jetzt losgehen.«
Von Carsten Clever-Rott

Artikel vom 20.07.2018
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