Einfach nur wissen

München · Welche Gefahr im Vergessen liegt und was dagegen hilft

Wozu Menschen fähig sind, zeigt das NS-Dokumentationszentrum. Nicht selten bleibt der Betrachter ob der Monstrosität der Taten fassungslos zurück.	Foto: Orla Connolly

Wozu Menschen fähig sind, zeigt das NS-Dokumentationszentrum. Nicht selten bleibt der Betrachter ob der Monstrosität der Taten fassungslos zurück. Foto: Orla Connolly

München · »Geschichte wiederholt sich nie identisch.« Prof. Dr.-Ing. Winfried Nerdinger hält sich dennoch mit Prognosen für die Zukunft zurück. Eigentlich ist er ein Fachmann für die Vergangenheit.

Weitere Artikel zum Thema
München · Aktuelle Veranstaltungen im NS-Dokumentationszentrum
Artikel vom 14.01.2016: Über Täter und Opfer

So seh ich das! Über gesetzes- und gesellschaftskonformes Verhalten
Artikel vom 15.01.2016: Münchner Samstagsblatt-Redakteur Carsten Clever-Rott über den Wert der Werte

Doch wohin wir uns gerade bewegen, kann auch der Direktor des NS-Dokumentationszentrums nicht sagen. Aber er sagt ganz klar: »Man kann die Situation heute nicht mit den frühen Dreißigerjahren vergleichen.« Wir könnten uns heute auf eine Jahrzehnte währende stabile Demokratie stützen. Um 1930 herum sei die Situation ungemein aufgeheizt gewesen. Doch auch jetzt »steigt die Temperatur«, um im Bild zu bleiben. So findet auch Nerdinger es »erschreckend, wie schnell extremistische und nationalistische Haltungen um sich greifen«. In Deutschland, in Europa. Das hätte man vor 15 Jahren nicht gedacht.

Diese Entwicklung hat Gründe. Sorge, Verunsicherung, Angst. Das alles führt zum Rückzug ins Schneckenhaus. Dabei lehrt uns die Erfahrung des vergangenen Jahrhunderts, wie grenzübergreifende Zusammenarbeit zum Wohlstand führen kann, während die radikale und egoistische Verfolgung eigener Interessen zu Konflikten führt. Ist das alles schon zu lange her?

Vergessen ist gefährlich. Die Ausstellungen des NS-Dokumentationszentrums zeigen eines ganz genau: nämlich Zustände, die wir nicht mehr haben wollen – und deren Ursachen. »Es geht nicht ums Belehren oder den erhobenen Zeigefinger, sondern um Aufklärung«, betont Nerdinger. Den Weg ins NS-Dokumentationszentrum muss man dann auch alleine machen. Niemand wird gezwungen, empfehlenswert ist der Besuch in jedem Fall. Aktuell läuft noch bis Ende Februar die Sonderausstellung »Der Warschauer Aufstand 1944«. Dieser Aufstand ist in Deutschland wenig bekannt und wird oft mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 verwechselt. Tatsächlich hatte sich im August 1944 die polnische Heimatarmee in der Hauptstadt gegen die deutschen Besatzer erhoben, in der Absicht, der Roten Armee eine befreite Stadt übergeben zu können. Doch die Sowjets rückten nicht an. Die Besatzer schlugen den Aufstand nieder und zerstörten die Stadt beinahe komplett. Was das bedeutet hat, macht die Sonderausstellung deutlich. Letztlich geht es um Wissen.

Dieses Wissen stellt das NS-Dokumentationszentrum bereit. »Wir sind keine verlängerte Schulstunde«, stellt Nerdinger klar. Und vor allem: »Wir können keine Versäumnisse aufholen.« Seit der Eröffnung im Mai 2015 konnte das Haus mehr als 180.000 Besucher begrüßen. Die Dauerausstellung »München und der Nationalsozialismus« behandelt die Themen Ursprung und Aufstieg des Nationalsozialismus in München, die besondere Rolle der Stadt im Terrorsystem der Diktatur und den schwierigen Umgang mit dieser Vergangenheit seit 1945. Leitthemen sind unter anderem »Ausgrenzung und Verfolgung«, »Warum München?«, »Was hat das mit mir zu tun?«. Die Dokumentation umfasst Fotografien, Dokumente und Texte sowie Filmprojektionen und Medienstationen. Biografien beleuchten die Motive und Handlungsspielräume von Tätern und Opfern, Mitläufern und Widerständlern.

Vom 6. April bis 26. Juni widmet das NS-Dokumentationszentrum die Sonderausstellung kranken und behinderten Menschen im Nationalsozialismus. »erfasst. verfolgt. vernichtet.« heißt die Ausstellung. Die Verfolgung der Sinti und Roma in München ist der Schwerpunkt der Sonderausstellung vom 20. Juli bis 23. Oktober. Ab 17. November wird hier die Ausstellung »Angezettelt. Antisemitismus im Kleinformat« gezeigt.

In den kommenden Tagen finden im NS-Dokumentationszentrum mehrere Einzelveranstaltungen statt. Am Mittwoch, 20. Januar, gibt es ab 19 Uhr eine Filmvorführung mit Zeitzeugengespräch. Gezeigt wird der Dokumentarfilm »LINIE41« von Tanja Cummings. Darin verfolgt die Regisseurin den Weg von Natan Grossman auf der Suche nach seinem Bruder, der 1942 im Lodzer Ghetto verschwand. Vorträge mit Podiumsdiskussion folgen einen Tag später bei der Veranstaltung »Steinerne Zeitzeugen – Aktuelle Fragen im Umgang mit authentischen Orten«. Beginn am 21. Januar ist um 19.30 Uhr. Unter welchen Repressalien die Zeugen Jehovas zu leiden hatten, klärt ein Vortrag am Mittwoch, 27. Januar, mit dem Titel »Bekennermut und Glaubensgehorsam der Zeugen Jehovas im Dritten Reich«. Beginn ist um 19 Uhr.

Am Donnerstag, 28. Januar, befasst sich eine Podiumsdiskussion mit dem »Warschau der zwei Aufstände«. Der Blick auf die Erinnerung und Aufarbeitung in Deutschland und Polen beginnt um 19 Uhr.

Der Eintritt zu allen vier Veranstaltungen ist frei. Mit einer Voranmeldung per E-Mail an veranstaltungen.nsdoku@muenchen.de kann man einen Sitzplatz reservieren. Von Carsten Clever-Rott

Artikel vom 15.01.2016
Auf Facebook teilen / empfehlen Whatsapp

Weiterlesen





Wochenanzeiger München
 
Kleinanzeigen München
 
Zeitungen online lesen
z. B. Samstagsblatt, Münchener Nord-Rundschau, Schwabinger-Seiten, Südost-Kurier, Moosacher Anzeiger, TSV 1860, ...