Keine Liebesheirat

Landkreis · Vor 50 Jahren begann die Gebietsreform in Bayern

Höhenkirchen-Siegertsbrunn ist einer der längsten Ortsnamen Deutschlands. Die Doppelgemeinde gibt es erst seit der Gebietsreform in den 70er Jahren. Foto: hw

Höhenkirchen-Siegertsbrunn ist einer der längsten Ortsnamen Deutschlands. Die Doppelgemeinde gibt es erst seit der Gebietsreform in den 70er Jahren. Foto: hw

Landkreis · Arget, Pöring oder Heimstetten als politisch eigenständige Gemeinden, Wasserburg am Inn und Wolfratshausen als Kreisstädte? Nur die Älteren erinnern sich noch an die Strukturen vor der Gebietsreform in Bayern. Die Neuordnung von Gemeinden, Städten und Landkreisen begann vor 50 Jahren, unumstritten war sie nicht.

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Die Lebensbedingungen auf dem Land verbessern, das sollte die umfassende Gebietsreform, die Ministerpräsident Alfons Goppel Anfang 1967 ankündigte. Mehr als zwei Drittel der Gemeinden in Bayern hatten damals weniger als 1.000 Einwohner, über ein Viertel höchstens 300 Bewohner. Zahlreiche kleine Gemeinden waren kaum mehr in der Lage, ihren Aufgaben nachzukommen. Die Zusammenlegung von strukturschwachen Kommunen und Landkreisen sollte die Wirtschaftlichkeit verbessern, zudem den Ausbau der Infrastruktur wie Schulen und Straßen vorantreiben. Von 1972 bis 1978 dauerte die Gebietsreform, die die Zahl der Kommunen im Freistaat von über 7000 auf rund 2030 reduzierte. Die Stadt München war nicht betroffen: Hier hatten die letzten Eingemeindungen umliegender Orte mit Aubing und Langwied schon 1942 stattgefunden.

Ganze Landkreise verschwanden

Zum 1. Juli 1972 trat die Neuordnung der Landkreise und kreisfreien Städte in Kraft. In Oberbayern verschwanden Landkreise wie Bad Aibling, Wasserburg am Inn oder Wolfratshausen von der Landkarte. Die Nachbarn profitieren: So erhielt der Landkreis Erding zum Beispiel Isen oder Sankt Wolfgang, die zum aufgelösten Kreis Wasserburg zählten, hinzu. Das kleine Dorf Sankt Christoph, das bis dahin sich selbst und ein paar umliegende Einöden verwaltet hatte, kam hingegen zum Landkreis Ebersberg und gehört nun zu Steinhöring.

Die auf dem Papier lapidar klingenden Änderungen waren für die Menschen vor Ort sehr bedeutsam – die Identifikation mit dem eigenen Dorf oder Landkreis war hoch, gerade die sich bis 1978 hinziehenden Zusammenschlüsse von Gemeinden und damit verbundene Aufgabe der Eigenständigkeit wollten viele nicht wahrhaben. Blieb es meist bei hitzigen Debatten, kam es mancherorts zu handfesten Protesten gegen die "von oben" aufgezwungenen "Zwangsehen". Im unterfränkischen Ermershausen besetzten und verbarrikadierten die Bürger das Rathaus, um sich der Eingliederung nach Maroldsweisach zu widersetzen. Mehrere Hundertschaften der Bereitschaftspolizei stürmten das Dorf und vollzogen 1978 die Eingemeindung, die der Freistaat nach anhaltenden Protesten 1994 als "gescheitert" erklärte – seitdem ist Ermershausen wieder eigenständig.

Mit der Gebietsreform verschwunden ist auch der Kreis Wolfratshausen, der im Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen aufging. Doch nicht alle Wolfratshauser Gemeinden fanden sich darin wieder: Otterfing kam zum Kreis Miesbach, Arget, Eichenhausen, Oberbiberg und Sauerlach zum Landkreis München. Arget und Eichenhausen bildeten mit Lanzenhaar (zuvor ein Ortsteil von Brunnthal) die Großgemeinde Sauerlach. Auch dieser Zusammenschluss war keine Liebesheirat: Bis das "neue" Sauerlach beschlossene Sache war, waren harte Verhandlungen nötig, schließlich hatte jede Gemeinde ihren eigenen Bedürfnisse.

Arget handelte seinen Beitritt mit einem langen Forderungskatalog aus, Eichenhausen, das 1973 um die 350 Einwohner hatte, kämpfte derweil gegen die Eingemeindung. Als rein ländlich geprägte Gemeinde passe man nicht zu Sauerlach, war die Meinung der Eichenhausener. Bürgermeister Paul Öckerl strebte eine Fusion mit Endlhausen und Oberbiberg an. Diesem Ansinnen gab die Regierung von Oberbayern aber nicht statt. Die Eichenhausener sicherten sich vertraglich Rechte wie den Weiterbestand alter Jagdreviere, bevor sie ihr »Jawort« gaben. Zudem mussten die Bürger damit leben, dass auf ihren Kfz-Kennzeichen nicht mehr WOR, sondern M stand. Seit 2012 die Ausgabe der alten Kennzeichen wieder möglich ist, fahren in den Sauerlacher Ortsteilen viele Autos mit WOR umher.

Aus Nachbarn wurden Partner

Fast alle Gemeinden in den Landkreisen München, Erding und Ebersberg existieren erst seit der Gebietsreform in ihrer heutigen Größe. Die Stadt Dorfen bekam damals von Eibach bis Zeilhofen gleich acht Altgemeinden zugeschlagen, zählt nun 203 (!) Ortsteile und ist flächenmäßig die viertgrößte Stadt Oberbayerns. Kirchheim und Heimstetten, Aschheim und Dornach, Pliening und Gelting, Pöring und Zorneding, Höhenkirchen und Siegertsbrunn – alle waren einst Nachbarn, bevor sie Partner wurden. Reibungslos verlief der Zusammenschluss selten. In Pöring bildete sich eine Bürgerinitiative gegen die Auflösung der Gemeinde, auf der letzten Bürgerversammlung stimmten 95 Prozent der Anwesenden für die Selbstständigkeit – vergeblich: Pöring kam zum 1. Mai 1978 zu Zorneding, die Waldkolonie zur Gemeinde Parsdorf, die sich in Vaterstetten umbenannte.

Höhenkirchen-Siegertsbrunn ist ein Sonderfall: Hier tauchen beide Altgemeinden im Namen der neuen Kommune auf, die sich mit einem der längsten Ortsnamen Deutschlands schmücken darf. Schweren Herzens verzichtete Siegertsbrunn auf seine Eigenständigkeit, dafür flossen Fördermittel von rund 200.000 D-Mark an die neue Gemeinde. Bis der Freistaat den von Siegertsbrunn gewünschten Doppelnamen akzeptierte, dauerte es sieben Jahre. Ihre eigene Identität haben sich die Dörfer freilich bewahrt: Von Burschenvereinen über Maibäumen bis zu den Freiwilligen Feuerwehren gibt es vieles im Doppelpack.

Kirchheim statt Kirchheimstetten

Anderswo mussten die Bürger des "Juniorpartners" hinnehmen, namentlich nicht mehr aufzutauchen. Exemplarisch sei Heimstetten genannt, wo einige bis heute nicht verwunden haben, von Kirchheim geschluckt worden zu sein. Den Vorschlag, die Kommune in "Kirchheimstetten" umzutaufen, gab es mal, er setzte sich aber nicht durch. Aktuell entsteht eine neue Ortsmitte mit zentralem Rathaus und Landschaftspark, damit die beiden Orte nach 50 Jahren endlich auch räumlich zueinander finden. Den Heimstettenern bleibt der bessere Fußballverein, der sicher nie "SV Kirchheim" heißen wird, und auch die S-Bahn-Station erinnert an die Gemeinde, die wie so viele andere aus dem amtlichen Verzeichnis verschwunden ist.

Benjamin Schuldt

Artikel vom 09.07.2022
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