Kleiner Ort mit großer Geschichte - 75 Jahre Föhrenwald

Letztes Schtetl in Europa

Die Vorstandsmitglieder Eva Greif und Emanuel Rüff präsentieren die brandneue Ausstellung "LebensBilder" im Erinnerungsort Badehaus. Foto: hw

Die Vorstandsmitglieder Eva Greif und Emanuel Rüff präsentieren die brandneue Ausstellung "LebensBilder" im Erinnerungsort Badehaus. Foto: hw

Bayern/München · Ein großer Festakt hätte es werden sollen, aber, wie bei so vielen Veranstaltungen in diesem Jahr, hat Corona den Feierlichkeiten zu "75 Jahre Displaced Persons Lager Föhrenwald" in Waldram-Wolfratshausen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jetzt, am Sonntag, 1. November, kann man aber die Aufzeichnung des Festaktes, der im engsten Kreise Mitte Oktober gefeiert wurde, ab 17 Uhr unter www.erinnerungsort-badehaus.de ansehen.

Online: www.erinnerungsort-badehaus.de

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Anlässlich des Jubiläums wurde im "Erinnerungsort Badehaus"am Kolpingplatz 1 in Wolfratshausen die Fotoausstellung "LebensBilder" von Justine Bittner eröffnet. Sie hat 35 der ehemaligen Flüchtlinge, die im Lager Föhrenwald nach Kriegsende Unterschlupf fanden, aufgesucht und portraitiert. Bei der Eröffnung der Ausstellung sprach auch die Zeitzeugin und ehemalige Föhrenwald-Bewohnerin Esther-Alexander Ihme über ihre Erfahrungen. 33 Portraits zeigt die Sonderausstellung, 33 Schicksale, die am 22. November auch in Buchform "LebensBilder - Porträts aus dem jüdischen DP-Lager Föhrenwald" erscheinen werden. Zu sehen ist die Sonderausstellung bis Mai nächsten Jahres.

Zur Geschichte des „Schtetl“

Was viele nicht wissen, nach dem Zweiten Weltkrieg entstand bei Wolfratshausen das Lager Föhrenwald, das größte und am längsten bestehende Lager für jüdische DPs (Displaced Persons). Heimatlos gewordene Juden warteten hier auf ihre Ausreise unter anderem nach Israel und Canada.

Manche von ihnen blieben nur für wenige Tage, andere leben dort Jahre, denn das Lager wurde erst 1957 aufgelöst bzw. der katholischen Kirche übergeben, die hier die bestehenden Räumlichkeiten für katholische Heimatvertriebene nutzte. Viele der jüdischen Flüchtlinge waren bereits zu alt oder zu krank, um nach Israel übersiedeln zu können. Sie fanden hier ein zweitweises Zuhause.

Ein im Oktober 2018 eröffnetes Museum in Wolfratshausen-Waldram (früherer Ortsteil Föhrenwald) zeigt, wie das Leben damals in Föhrenwald verlief. Bevor 1945 die Flüchtlinge hier Quartier nahmen, wurde der abgelegene Ortsteil ab 1940 als NS-Siedlung für Zwangsarbeiter genutzt, die in einer nahe gelegenen Rüstungsfabrik arbeiten mussten. An diese Geschichte(n) erinnert in Waldram heute nur noch das alte Badehaus, das von einer Bürgerinitiative vor acht Jahren vor dem Abriss gerettet und dank vieler Unterstützer und jeder Menge ehrenamtlichen Engagements zum Museum umgebaut wurde.

Die besondere Geschichte vom Lager in Föhrenwald drohte in Vergessenheit zu geraten, was der Verein eindrucksvoll zu verhindern wusste. Die Vorsitzende des Vereins „Bürger fürs Badehaus Waldram-Föhrenwald“ Dr. Sybille Krafft ist stolz auf die Arbeit, die der Verein bis heute geleistet hat und weiterhin leistet.

Rund 17.000 Ehrenamtliche Stunden sind in die Sanierung des Hauses und die Konzeption des Museums geflossen, ein Ende ist nicht abzusehen, denn alle Dienste rund ums Museum werden auch weiterhin ehrenamtlich erbracht. Zu den fleißigen Helfern rund um den Verein gehören auch Eva Greif und Emanuel Rüff, die beide in Waldram leben. "Wir wollen die Erinnerung an diesen besonderen Ort erhalten und mehr Menschen für dieses wichtige Thema sensibilisieren", erklären die beiden Waldramer. Prominentestes Mitglied des Fördervereins war übrigens Max Mannheimer (1920 - 2016), der Mitglied Nummer 1 war. Max Mannheimer hatte zwar selber nicht in Föhrenwald gelebt, im Auftrag der US-Amerikaner aber hier traumatisierte Flüchtlinge betreut. "Max Mannheimer war von Anfang an in die Gründung des Museums involviert", berichtet Emanuel Rüff.

Die Menschen, die von 1945 bis 1957 in Föhrenwald lebten, hatten sich ihre eigene jüdische Welt, ihr „Schtetl“ erschaffen. Eine Synagoge gab es ebenso wie Schulen, Krankenstationen, einen Sportverein, ein Kino und ein Waisenhaus, denn viele Kinder hatten ihre Familien verloren . Für Deutsche war der Zutritt zum „Schtetl“ indes verboten. Eine kleine, heile Welt sollte hier helfen, Wunden zu heilen, die die Verfolgung geschlagen hatte. Auch Überlebende des Dachauer Todesmarsches fanden hier eine zeitweilige Zuflucht. Zunächst stand es unter der Leitung der Amerikaner, die es Anfang der 50er Jahre dann an die Deutsche Regierung übergaben. Die Sprache im Schtetl war Jiddisch, das von nahezu allen Einwohnern dort gesprochen wurde.

Aber nicht nur das religiöse Leben wurde wieder aufgenommen, sondern auch das politische, denn viele bereiteten sich dort auf die Auswanderung nach Israel vor. Anhand von vielen Einzelschicksalen wird der Weg, den der heutige Ortsteil Waldram durchschritten und durchlitten hat, aufgezeigt.

Im Erinnerungsort Badehaus geht es nicht um zahlreiche namenlose Schicksale, sondern um ganz konkrete Personen. Mit einer von ihnen, der niederländischen Widerstandskämpferin Willemijn Petroff-van Gurp, die kürzlich ihren 102. Geburtstag gefeiert hat, konnte Emanuel Rüff im Rahmen seiner ehrenamtlichen Museumsarbeit ein langes, persönliches Gespräch führen. Willemijn Petroff-van Gurpü musste während des 2. Weltkrieges als Zwangsarbeiterin bei Agfa arbeiten.

Nach ihrer Befreiung kam sie zunächst nach Föhrenwald, bevor sie wieder in ihre Heimat reisen durfte. Jetzt will der Verein die Geschichte dieser Menschen in die Welt tragen, hofft auf zahlreiche Besucher (sobald und sofern diese wieder zugelassen sind). Geöffnet hat das Museum jeweils samstags und sonntags von 13 bis 17 Uhr, Der Eintritt kostet 5 Euro für Erwachsene und 3 Euro für Jugendliche. Für Schulklassen und Gruppen werden zu gesonderten Zeiten auch gerne Führungen nach Absprache angeboten.

Unter der E-Mail info@erinnerungsort-badehause.de oder unter Tel. 081712572502 kann man hierzu Kontakt aufnehmen. Wer möchte, kann auch Mitglied im Förderverein werden, eine Jahresmitgliedschaft kostet lediglich 25 Euro, tatkräftige Ehrenamtliche sind ebenfalls herzlich willkommen, um diesen Ort der Begegnung und der Geschichte lebendig zu erhalten. hw

Artikel vom 30.10.2020
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