Eine Redakteursgruppe vom Bundesverband Deutscher Anzeigenblätter (BVDA) stellt Fragen an prominente Vertreter aus Politik und Gesellschaft

Warum werden die Kurzzeitpflegeplätze immer weniger, wenn wir doch immer mehr brauchen?

Der Frage des Geschäftsführers der RAG-Redaktionsservice GmbH, Frechen, Ulf-­Stefan Dahmen (re.) stellte sich Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister (gr. Bild).

Der Frage des Geschäftsführers der RAG-Redaktionsservice GmbH, Frechen, Ulf-­Stefan Dahmen (re.) stellte sich Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister (gr. Bild).

München · Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland steigt jedes Jahr an: 2005 waren es laut Statistischem Bundesamt 2,1 Millionen, 2017 bereits 3,4 Millionen. Zugleich sinkt trotz wachsendem Bedarf aber die Zahl der verfügbaren Kurzzeitpflegeplätze: 2005 waren es 11.367 Plätze, 2017 nur noch 8.621.

Bundesweit: Das geht uns alle an!

Bundesweit verschärft sich also der Engpass an Kurzzeitpflegeplätzen. In ihrem Koalitionsvertrag haben Union und SPD indes eine Entlastung von Angehörigen versprochen: »Um Angehörige besser zu unterstützen, gehören insbesondere Angebote in der Kurzzeit- und Verhinderungspflege ..., die besonders pflegende Angehörige entlasten, zu einer guten pflegerischen Infrastruktur ... Wir werden die Angebote für eine verlässliche Kurzzeitpflege stärken.«

Herr Spahn, warum werden die Kurzzeitpflegeplätze immer weniger, wenn wir doch immer mehr brauchen?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: Wer sich dazu entschieden hat, einen nahestehenden Menschen zu Hause zu pflegen, verdient Dank und Anerkennung – aber vor allem Unterstützung.

Daher hat die Bundesregierung die Leistungen für pflegende Angehörige in den letzten Jahren kontinuierlich ausgebaut – das reicht von unentgeltlichen Pflegekursen bis zur besseren sozialen Absicherung bei der Rente.

Ganz wichtig ist, dass pflegende Angehörige eine Auszeit von der Pflege nehmen können. Denn auch sie können krank werden oder eine Rehabilitation benötigen. Gerade für pflegende Angehörige ist es wichtig, einfach mal in den Urlaub fahren zu können, um sich vom Pflege-Alltag zu erholen.

Angehörige gut versorgt wissen

Eine Auszeit von der Pflege können und wollen viele Angehörige aber nur nehmen, wenn sie die ihnen anvertraute pflegebedürftige Person in der Zwischenzeit gut versorgt wissen. Außerdem ist eine gute Kurzzeitpflege wichtig, wenn es um die Nachsorge pflegebedürftiger Patienten nach der Entlassung aus dem Krankenhaus geht. Für beides brauchen wir eine ausreichende Zahl von Plätzen in entsprechend qualifizierten Kurzzeitpflegeeinrichtungen, aber auch in regulären Pflegeheimen.

Richtig ist, dass es weniger Einrichtungen gibt, die ausschließlich Kurzzeitpflege anbieten. Gleichzeitig bieten aber einige Einrichtungen, in denen bisher nur Dauerpflege möglich war, inzwischen auch Kurzzeitpflege an. Das gleicht den Bedarf aber nicht vollständig aus.

Wir wissen, dass es angesichts einer zunehmenden Zahl Pflegebedürftiger und einer steigenden Nachfrage von Seiten der pflegenden Angehörigen mittlerweile einen Mangel an verfügbaren Plätzen für die Kurzzeitpflege gibt. Daher haben wir auch im Koalitionsvertrag verankert, uns für eine verlässliche Kurzzeitpflege einzusetzen.

Ich werde mich um Verbesserungen kümmern

Ich werde mich um Verbesserungen bei der Kurzzeitpflege kümmern – wir arbeiten gerade an konkreten Vorschlägen, wie das umgesetzt werden kann. Unser Ziel ist klar: Wir werden die Angebote für Kurzzeitpflege stärken – denn das stärkt pflegende Angehörige.

»Wer es nicht selber erlebt hat, der kann es nicht nachvollziehen!«

Claus Fussek, Dipl. Sozialpädag. FH:
Politiker und Politikerinnen aller Parteien betonen seit vielen Jahren gebetsmühlenartig und bei jeder Gelegenheit: Die Zahl der Demenzerkrankten wird ansteigen. Der größte und preisgünstigste Pflegedienst der Nation sind die pflegenden Angehörigen! Der überwiegende Anteil der pflegebedürftigen Menschen wird zu Hause versorgt und betreut. »Ich pflege meine Mutter seit vielen Jahren rund-um-die Uhr – sieben Tage in der Woche – der Pflegedienst kommt zweimal am Tag für ein paar Minuten – ich bin 23 Stunden ohne Hilfe. Ich kann nicht mehr, ich bin am Ende mit meiner Kraft. Ich habe Angst, dass ich selber krank werde...!« Solche Hilferufe von vollkommen verzweifelten, überlastete und auch überforderten Angehörigen gehören zum Alltag von Pflege- und Beratungsdiensten.

Sehr viele Angehörige suchen sich (bezahlbare) Entlastung durch sog. osteuropäische Haushaltshilfen. Wir brauchen ganz dringend bezahlbare, bedarfsgerechte, flexible Pflege- und Betreuungskonzepte, Tagespflege. Aktuell ist auch wieder die Forderung nach verlässlichen Kurzzeitpflegeangeboten im Gespräch. Pflegende Angehörige haben einen Anspruch auf Kurzeit- und Verhinderungspflege. Anspruch und Wirklichkeit: Die Suche nach einer Kurzzeitpflege gleicht einem Lotteriespiel. Die Unterversorgung ist dramatisch, es gibt kaum Angebote, die Wartelisten sind sehr lange und leider ist auch die Pflegequalität in vielen Pflegeheimen häufig sehr fragwürdig.

Es gibt einen Rechtsanspruch auf einen Kita Platz – warum gibt es keinen Rechtsanspruch auf Tagespflege und Kurzeitpflegeplätze? Allerdings können leider wegen chronischem Personalmangel selbst vorhandene Kurzzeitpflegeplätze nicht angeboten werden. Wie und wo wollen wir im Alter, bei Pflegebedürftigkeit wohnen, leben und gepflegt werden? Es geht uns doch früher oder später alle an!

Pflege, Entlastung pflegender Angehöriger ist die große Herausforderung und muss endlich die gemeinsame Schicksalsfrage der Gesellschaft werden. Wir haben auch in dieser Frage keinerlei Erkenntnisprobleme ... die Zahlen und Statistiken der demographischen Entwicklung sind seit Jahrzehnten bekannt. Wir müssen endlich handeln – Pflege ist kein Zukunfts- sondern längst ein Gegenwartsproblem! Wir können und dürfen es uns nicht leisten, dieses wichtige Thema länger zu verdrängen!

»Leider oft gewinn- und nicht menschenorientiert«

Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland:
Die Versorgung Pflegebedürftiger wurde seit Einführung der Pflegeversicherung dem freien Markt überlassen. Das heißt, das Anbieten von Pflegeleistungen ist in Deutschland bisher leider oft gewinn- und nicht unbedingt menschenorientiert. Es war (und ist) eine politische Entscheidung, die Pflege älterer Menschen nicht durch eine vollfinanzierte Pflegeversicherung zu sichern. Da es keinen Versorgungsauftrag für pflegerische Dienstleistungen wie Kurzzeitpflege gibt, wird die Zahl der weißen Flecken auf der deutschen Pflegelandkarte immer größer. Pflegeanbieter können sich die lukrativsten Rosinen herauspicken.

Kurzzeitpflegeplätze vorzuhalten, ist derzeit aber ein Verlustgeschäft. Denn die Kurzzeitpflege wird nur dann von der Pflegeversicherung bezahlt, wenn ein Bett tatsächlich genutzt wird. Deshalb gibt es Kurzzeitpflege in den Pflegeheimen meist nur als Zwischennutzung. Und Pflegeheime sind vielerorts ganzjährlich vollbelegt. Für pflegende Angehörige, die dringend eine Auszeit brauchen, ist das ein Desaster. Sie müssen diesen eklatanten Mangel ausbaden. Ich halte diese Entwicklung für sehr gefährlich: Mehr als die Hälfte der pflegenden Angehörigen hat niemanden, der sie im Fall des Falles in der häuslichen Pflege vertreten kann. 40 Prozent der Hauptpflegepersonen sind 70 Jahre und älter. Diese Menschen arbeiten sich im wahrsten Sinne des Wortes komplett auf, weil sie keine Entlastung bekommen, selbst wenn diese ihnen wie die Kurzzeitpflege theoretisch zusteht.

Der Sozialverband VdK fordert eine verbindliche Quote in allen Pflegeeinrichtungen für Kurzzeitpflegeplätze. Dafür muss in der Pflegeversicherung eine entsprechende Finanzierung eingeführt werden. Die Bundesländer sind ebenfalls in der Pflicht und müssen den Ausbau der Kurzzeitpflegeangebote stärker mit Steuermitteln fördern. Auch das von der Koalition vereinbarte Ziel, Angehörige besser zu unterstützen und ein jährliches Entlastungsbudget zu schaffen, das flexibel in Anspruch genommen werden kann, muss zügig umgesetzt werden. Darüber hinaus würde eine Pflegevollversicherung nach Vorbild der Krankenversicherung viele Finanzierungsnöte von Pflegebedürftigen und Angehörigen lindern.

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Artikel vom 18.02.2020
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