Manchmal brennt es

Wie viel Unterricht fällt an unseren Schulen wirklich aus?

Persönlicher Einsatz als Vertretungslehrer? Nein: Hier liest Bildungsstaatssekretär Georg Eisenreich beim jährlichen Vorlesetag.	Foto: StMBKWK

Persönlicher Einsatz als Vertretungslehrer? Nein: Hier liest Bildungsstaatssekretär Georg Eisenreich beim jährlichen Vorlesetag. Foto: StMBKWK

München · Eine 4 als Note gilt als »ausreichend«. Doch reicht es wirklich aus, wenn ganze Klassen von Gymnasien in Schlüsselfächern wie Deutsch und Mathe bei ihren Schulaufgaben mit Ach und Krach nur noch auf Vierer-Schnitte kommen?

»Ja«, sagen Lehrer dieser Schüler: Klassenergebnisse von 3,8 seien durchaus »normal«. In unserem Fall geht es um eine sechste Klasse in einem Münchner Gymnasium – in der seit Oktober 13,0 Prozent des regulären Unterrichts ausgefallen sind. »Einen Zusammenhang zwischen Unterrichtsausfall und Noten kann man nicht feststellen«, meint dazu Georg Eisenreich, Staatssekretär im bayerischen Bildungsministerium, und verweist auf die glänzenden Abi-Ergebnisse im Freistaat: Etwa ein Drittel der Abiturienten schließt zwischen 1,0 und 2,0 ab. Die Sechstklässler in unserer Beispielklasse haben davon vorerst nichts.

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»Jede ausgefallene Stunde, egal aus welchem Grund, bedeutet nicht vermitteltes, erforderliches Wissen«, meint Michael Streit, der Vorsitzende des Gemeinsamen Elternbeirates der Grund- und Mittelschulen in München. Unterrichtsausfall berührt aber nicht nur die Leistungen der Schüler, sondern betrifft die ganze Familie. Beruf und Familie lassen sich ohnehin schwer unter einen Hut bringen; werden Grundschulkinder früher nach Hause geschickt, kommen Eltern selbst mit Teilzeitarbeit schnell an die Grenzen des noch Machbaren. Die Grundschulen in und um München bewältigen unvermeidbare Ausfälle indes relativ gut: »Wo es zu Ausfällen kam, konnte dies gut aufgefangen werden«, schildert etwa Ralf Isermann, Elternbeirat der Droste-Hülshoff-Schule die Situation, »einen problematischen Ausfall von Stunden haben wir nicht.«

Das passt ins Bild, das das Bildungsministerium zeichnet: »Wir konnten den Unterrichtsausfall deutlich senken«, sagt Georg Eisenreich, »über alle Schularten hinweg sind im letzten Schuljahr 1,6 Prozent der Stunden ersatzlos ausgefallen.« Eine erste »Vollerhebung« ergab 2012 ähnlich positive Werte: Demnach fiel an den 227 staatlichen Realschulen gerade mal eine von 84 Schulstunden ersatzlos aus, an den 310 staatlichen Gymnasien war es nur jede 35.

An den Gymnasien in München beträgt der ersatzlose Unterrichtsausfall 2,8 Prozent (im Vergleich zu anderen Großstädten in Bayern liegt München damit im Mittelfeld). Ersatzloser Ausfall von Unterricht ist tatsächlich selten, doch die Zahlen aus dem Ministerium haben zwei Haken: Um den Unterrichtsausfall zu beziffern, wird nur ein Zeitraum von je zwei Wochen im Herbst und Frühjahr untersucht. Für die »Vollerhebung« 2012 war lediglich ein kurzer Blick auf die drei Januar-Wochen nach den Weihnachtsferien geworfen worden; Zum »ersatzlosen« Unterrichtsausfall werden nicht die Stunden gezählt, in denen Vertretungslehrer eine Klasse übernehmen. Der Anteil dieses »nicht planmäßigen« Unterrichts liegt laut Bildungsministerium bereits bei 7,6 Prozent. In unserer Münchner Beispielklasse ist die Quote mit 13 Prozent wesentlich höher und mindestens jede achte Unterrichtsstunde »nicht planmäßig«. Besonders hart trifft es die Kinder unseres Einzelfalls in Latein: Hier kann seit Oktober jede vierte Stunde nicht mehr regulär gegeben werden.

Unser Beispiel schildert einen Einzelfall. Aber hinter jedem steht ein Kind mit seinen persönlichen Zukunftschancen – und mit etwas Glück Eltern, die in die Bresche springen. »Wir setzen uns nachmittags hin und lernen den ausgefallenen Stoff oder bezahlen Nachhilfe«, erzählen Eltern, »sonst fehlen am Ende des Schuljahres ganze Kapitel«. Denn den Stoff, der in Vertretungsstunden nicht durchgenommen, nicht abgefragt, nicht vertieft wird, müssen die Kinder trotz Unterrichtsausfall beherrschen.

»Natürlich wird in Vertretungssituationen darauf geachtet, dass die zu haltende Unterrichtsstunde an dem anschließt, was der vertretene Lehrer vorher mit den Schülern besprochen hat. Dazu sprechen sich meine Kollegen stets sehr eng ab«, erklärt Florian Bär, der die Mittelschule Walliser Straße leitet.

Lehrer leisten Überstunden

Doch wenn Vertretungsstunden mehr als Hausaufgabenmachen, Fußballspielen oder Filmegucken bedeuten sollen, braucht es Lehrer, die gut motiviert sind und erhebliche zusätzliche Belastungen wegstecken: Dass die Mittelschule an der Peslmüllerstraße Unterrichtsausfälle zufriedenstellend bewältigen kann, führt die stv. Schulleiterin Christiane Kolb-Radl u.a. »auf die Leistung freiwilliger Überstunden durch unsere Lehrerinnen und Lehrer« zurück. »Viele Lehrkräfte sind bereit, über ihre dienstliche Verpflichtung hinaus kurz- und langfristig Mehrarbeit zu übernehmen, um drohenden Unterrichtsausfall zu vermeiden«, erklärt ähnlich Norbert Lottner, Rektor der Georg-Büchner-Realschule.

»Schulleitungen und Lehrkräfte versuchen täglich, den Unterrichtsausfall an den Grund- und Mittelschulen in Bayern so gering wie möglich zu halten«, bestätigt Gerd Nitschke, Vizepräsident des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, »sie halten Vertretungsstunden und machen Mehrarbeit, die nicht vergütet und auch nicht ausgeglichen wird.«

An die Grenzen gekommen

Die Wirklichkeit hält jedoch nicht überall, was die ministerielle Statistik verspricht: An vielen Schulen kann Vertretung nicht mehr als »Betreuung und Beaufsichtigung« sein, sagt Gerd Nitschke, »von einem regulären Unterricht oder gar von Förderung und Individualisierung brauchen wir hier nicht mehr zu sprechen.« Der Grund: Die noch gesunden Lehrkräfte kommen mit den ständigen Vertretungen selbst an ihre gesundheitlichen Grenzen.

Dabei ist Krankheit der Hauptgrund, warum Lehrer und damit Stunden entfallen. 59 Prozent der Ausfallstunden gehen auf das Konto von Erkrankungen. »Mit der Zahl der Schuljahre des Gymnasiums hat das nichts zu tun«, weist Georg Eisenreich einen Zusammenhang mit G 8 oder G 9 zurück. Stattdessen fallen Projekte und Exkursionen zumindest an Gymnasien ins Gewicht: »An Schulen, die in diesen Bereichen besonders aktiv sind, kann es zu mehr Unterrichtsausfall kommen«, so Eisenreich.

Viele zusätzliche Verpflichtungen

Das ist auch am Erasmus-Grasser-Gymnasium so. Schulleiter Stephan Zahlhaas zählt Schüleraustausch, Landheim, Skilager, Berlinfahrt, Prüfungsformate, Teamsitzungen, Lehrerausbildung usw. zu den vielfältigen Aufgaben, die Lehrkräfte am Gymnasium neben und über ihre Unterrichtsverpflichtung hinaus übernehmen. Mit Lehrer- bzw. Stundentausch, Einsatz der integrierten Lehrerreserve, Vertretungen durch Präsenzlehrkräfte usw. versucht das Gymnasium, seine rund 2.000 Wochenstunden Unterricht so zu organisieren, dass möglichst wenig entfällt.

Die Georg-Büchner-Realschule zieht auch die ursprünglich für Wahlunterricht, Differenzierten Sportunterricht, Ergänzungsunterricht etc. verplanten Lehrerwochenstunden heran, um Ausfälle abzufangen.

Mobile Reserven für die Lücken

Das Bildungsministerium stellt zudem 2.180 Lehrer als »mobile Reserven« vor allem für Grund- und Mittelschulen bereit, um längerfristige Lücken zu schließen (im laufenden Schuljahr gibt’s mit 110 Lehrern diese Reserve erstmals auch für Gymnasien zum Beispiel als Ersatz für Lehrer in Elternzeit). Daneben hat das Ministerium für Realschulen, Gymnasien und berufliche Schulen 2012 zusätzlich 4,5 Millionen Euro bereitgestellt, um Vertretungslehrkräfte einzustellen. »Wir haben zur Vermeidung von Unterrichtsausfall zusätzliche Ressourcen in erheblichem Umfang bereitgestellt«, betont Georg Eisenreich. Die Mobile Reserve reicht aber nicht aus. »Der eigentliche Bedarf wird durch sie nur kaschiert«, kritisiert Gerd Nitschke.

Immer wieder gibt es Zeiten, in denen keine Mobile Reserven zur Verfügung stehen, bestätigt Andrea Konetschny, Schulleiterin der Grundschule an der Südlichen Auffahrtsallee: »Dann ist es in der Regel so, dass Kolleginnen der Schule durch kräftezehrende Überstunden zusätzlich Unterricht in den betroffenen Klassen halten.«

Ziel noch nicht erreicht

Ihre Kollegin Karin Ackermann, die die Grundschule Herterichstraße leitet, hat bis April 2014 mehrfach Mobile Reserven bei Lehrererkrankungen in Anspruch genommen. »Es gibt Zeiten, in denen es ‘brennt’«, fasst sie zusammen, »und viele, viele Wochen, in denen alles ganz normal läuft.« Für Georg Eisenreich bleibt die Unterrichtsversorgung auch angesichts steigender Schülerzahlen in München eine zentrale Aufgabe. »Wir werden in jedem Fall alle Maßnahmen konsequent fortführen, um Unterrichtsausfall zu vermeiden«, verspricht er. »Ziel bleibt für mich eine verlässliche Schule«, sagt auch Bildungsminister Ludwig Spaenle. Erreicht ist es noch nicht. job

Kranke Lehrer
Im Schuljahr 2012/13 war die häufigste Ursache für nicht planmäßig erteilten Unterricht die Erkrankung der Lehrkraft (59 %). Weitere Ursachen für Unterrichtsausfälle waren Fortbildungen (13 %), Fahrten und Exkursionen (10 %), dienstliche Veranstaltungen (6 %), Lehrerausbildung (5 %) und Sonstiges (7 %). Bayerisches Bildungsministerium

Zum Bundesverband Deutscher ­Anzeigenblätter (BVDA) gehören 212 Verlage mit 900 Titeln, darunter die Münchner Wochenanzeiger und dem Samstagsblatt. Die Anzeigenblätter greifen in dieser Woche unter dem Motto »Das geht uns alle an« in ganz Deutschland gemeinsam das Thema Unterrichtsausfall auf.

Artikel vom 21.05.2014
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