30 Jahre gibt es jetzt die Tagklinik an der Lindwurmstraße

Zentrum · Anker für die Psyche

Schöpferisch sein in der Kunsttherapie: Justina Tomanek, ein Patient und Stephan Mirisch (v. l.).	Foto: Sylvie-Sophie Schindler

Schöpferisch sein in der Kunsttherapie: Justina Tomanek, ein Patient und Stephan Mirisch (v. l.). Foto: Sylvie-Sophie Schindler

Zentrum · Manuel hätte sich sein Leben auch gerne anders vorgestellt. Doch dann wurden seine Pläne jäh durchkreuzt. Drei Monate vor seiner Abschlussprüfung zum Maler und Lackierer musste er den Job aufgeben, er war völlig entkräftet.

Der Grund: Er litt unter Depressionen und der Borderline-Störung. »Damals wusste ich das noch nicht, ich dachte, so wie ich bin, das ist ganz normal«, erzählt der 21-Jährige. Heute besucht er die Tagesklinik für psychisch Kranke, die wegen ihrer Lage oft auch kurz »Lindwurmstraße« genannt wird – und die vor wenigen Tagen ihr 30-jähriges Bestehen feierte. »Dort endlich treffe ich Gleichgesinnte, es tut sehr gut, mit der Krankheit nicht alleine sein zu müssen«, sagt Manuel. »Freundschaften schließt man hier sehr schnell, wir halten zusammen.« Nach seiner Diagnose erlebte er es anders: Einige Freunde wendeten sich ab, auch die Mutter hatte Schwierigkeiten, damit klarzukommen – und der Vater glaubt bis heute, dass sein Sohn nur zur faul sei, um arbeiten zu gehen. »Es tut wirklich gut, hier zu sein«, betont Manuel.

Bei einem Rundgang durchs Haus sieht man, dass die Einrichtung teilweise den Flair der späten 70er-Jahre hat. In der Küche sind rote, gelbe und grüne Paprika zu einem Turm aufgebaut, das Kochteam wird sie nach dem Rezept einer Mitpatientin befüllen. Jeweils vier Leute kochen für vier Leute, das ist die Regel. Im Aufenthaltsraum, auf einer gemütlichen Couch, sitzt eine Patientin und liest in der Tageszeitung. Auch hierfür gibt es einen extra Dienst: Zeitungen werden nach Absprache mit allen gekauft. Bei Justina Tomanek, im Raum für Kunsttherapie, sitzen sieben Patienten an verschiedenen Arbeiten, da sind Wasserfarben aufgebaut, dort wird an einem Linolschnitt geschnitzt. Die Atmosphäre ist wohlig und gleichzeitig hoch konzentriert, alle sind in ihre schöpferischen Tätigkeiten versunken.

Tagklinik – was genau bedeutet das überhaupt? »Unser Haus steht Menschen mit Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen offen, für die eine ambulante Behandlung nicht ausreicht und ein vollstationärer Aufenthalt nicht mehr benötigt wird«, erklärt Stephan Mirisch, der leitende Arzt. Platz ist für 20 Patienten im Alter von 18 bis 55 Jahren, gut 80 Patienten jährlich sind hier zeitweise untergebracht, die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt dreieinhalb Monate. Die Patienten kommen jeweils um 8 Uhr morgens und verbleiben bis etwa 16 Uhr, dann gehen sie wieder nach Hause. »In unserem gemütlichen Haus lernen sie, sich im Leben wieder zurecht zu finden, in der Gemeinschaft mit anderen ebenso wie in Arbeit und Freizeit«, so Mirisch. Ziel sei es, so der Facharzt, Menschen mit seelischen Erkrankungen psychiatrisch und psychotherapeutisch optimal und intensiv zu behandeln, ihnen aber gleichzeitig ihre Teilhabe am sozialen Leben in der Stadt zu belassen. »Die Tagklinik als Alternative zum zu Hause herumhängen mit der Krankheit«, formulierte es einmal salopp eine ehemalige Patientin.

Auf dem Programm stehen so unterschiedliche Angebote wie Qi Gong, Entspannung, Trommeln, Tanz- und Bewegungstherapie, Sport und unterschiedliche therapeutische Maßnahmen wie Ergotherapie und Einzelgespräche.

Feste Tagesstruktur ist wichtig

Die Patienten werden erst nach einer Probephase aufgenommen. »Der Ortswechsel von der stationären Behandlung in unsere Tagklinik ist für einige unserer Patienten eine echte Herausforderung«, berichtet Mirisch. Alleine schon jeden Morgen pünktlich da zu sein, sei für einige nur unter größten Mühen zu schaffen. Pünktlichkeit, Verbindlichkeit, Verantwortungsübernahme, diese Grundfähigkeiten werden eingeübt, eine feste Tagesstruktur ist für die Erkrankten besonders wichtig. Selbstständigkeit wird ebenso gefördert wie Gruppenfähigkeit. »Das Lernen voneinander hat für uns einen hohen Stellenwert und ergibt sich zwangsläufig auch durch den Standort und die Räumlichkeiten, wo die Patienten in ständigem Austausch sind«, so Mirisch. Dies führe natürlich beizeiten auch zu Konflikten. Doch auch hier erleben die Patienten Begleitung, erfahren, dass sie sich einem Problem nicht ausgeliefert fühlen müssen, sondern erleben: »Mensch, ich kann das ja lösen.«

Die Gründung einer Tagklinik vor 30 Jahren in München sei, wie Mirisch berichtet, Pionierarbeit gewesen. Professor Hanns Hippius und seine Mitarbeiter gaben damals den Anstoß, das Münchner Rote Kreuz übernahm von der ersten Stunde an die Trägerschaft. »Die Tagklinik ist eine Erfolgsgeschichte. Für uns als Münchner Rotes Kreuz ist die Trägerschaft von besonderer Bedeutung, da wir viel von den Ängsten und Nöten der Betroffenen erfahren und durch eine professionelle, dem Patienten zugewandte Betreuung eine humane Versorgung sicherstellen können«, so die Vorsitzende Hildegard Kronawitter. Humanität, das bedeutet für Mirisch und sein Team aus neun Mitarbeitern auch ressourcenorientiert zu denken. »Wir wollen das fördern, was die Patienten trotz ihres Handicaps können«, so Mirisch. Die Diagnose trete dabei eher in den Hintergrund.

»Ich habe jetzt eine Perspektive«

Ermuntert in seinen Fähigkeiten fühlt sich auch Manuel. »Ich habe jetzt wieder eine Perspektive«, freut er sich. Nach seinem Aufenthalt in der Tagklinik wird er nach Pfaffenwinkel gehen, in eine Art betreutes Wohnen und dort die Möglichkeit haben, seinen Abschluss zu machen und sich wieder in die Arbeitswelt einzugliedern. »Diese Chance will ich mir nicht selbst verbauen. Ich werde mich anstrengen, dass ich das schaffe«, sagt Manuel. Er lächelt. Er nickt entschlossen. »Ja, ich will das schaffen.« Weitere Informationen zur Tagklinik an der Lindwurmstraße 12 gibt es unter Telefonnummer 544 28 90. Sylvie-Sophie Schindler

Artikel vom 20.11.2012
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