Münchner Kammerspiele: Ein Stück Geschichte wird 100

Zentrum · Das Theater lebt!

Matthias Günther kramt in 100 Jahren Anekdoten: So alt sind die Münchner Kammerspiele jetzt. Eine bemerkenswerte Inszenierung war sicherlich Bertolt Brechts »Mutter Courage« (1950 ) mit Therese Giehse. 	Foto: scy/Kammerspiele

Matthias Günther kramt in 100 Jahren Anekdoten: So alt sind die Münchner Kammerspiele jetzt. Eine bemerkenswerte Inszenierung war sicherlich Bertolt Brechts »Mutter Courage« (1950 ) mit Therese Giehse. Foto: scy/Kammerspiele

Zentrum · Woher kommt eigentlich die Redewendung »sich kaputt lachen«? Vielleicht, weil es an den Münchner Kammerspielen einen Zuschauer gab, der während einer Aufführung so sehr lachen musste, dass er sich – kein Witz – den Unterkiefer ausrenkte.

So geschehen in den späten 20er-Jahren, als der legendäre Hans Rühmann in der beliebten Komödie »Charlys Tante« auf der Bühne stand. Das ist nur eine der vielen, vielen Anekdoten, die man sich über das renommierte Theaterhaus an der Maximilianstraße zu erzählen weiß. Lustvolles Kramen in Erinnerungen gehört dazu, wenn die Kammerspiele in ihrer Spielzeit 2012/2013 das 100-jährige Bestehen feiern. Doch mehr noch ist das Jubiläum ein Anlass zu zeigen, wie lebendig und kraftvoll Theater auch heute noch ist. »Jeden Abend Liveerlebnisse, danach sehnt sich doch der postmoderne Mensch, nach echten Begegnungen, nach Authentizität«, sagt Dramaturg Matthias Günther. Und der Zuschauer ist mehr denn je mittendrin im Geschehen, wie ein Blick in das Festprogramm zeigt. Etwa wenn bei einem sogenannten »Bürgergipfel« am Sonntag, 14. Oktober, 100 Tische mitten auf der Maximilianstraße aufgestellt werden, beginnend vom Max-Joseph-Platz bis hin zum Schauspielhaus. Dort werden sich dann gut 1.000 Bürger versammeln, um über das Thema »Wie wollen wir in München in Zukunft zusammenleben?« zu debattieren. Da die Talkshow unter freiem Himmel, dort der Theaterraum als Dance-Floor: Am Samstag, 13. Oktober, gibt es zwölf Stunden elektronische Musik, ein avantgardistisches Soundexperiment auf entkerntem Parkett.

Ein weiterer Höhepunkt ist sicher auch die Lese­nacht mit dem Ensemble zu 25 ausgewählten Objekten aus dem Fundus: etwa einem Eimer Blut, einer lebendigen Bavaria und einer Handvoll »Erdinger Stinkbomben«. Was es damit auf sich hat? Antworten gibt es am Freitag, 12. Oktober. Spannend auch die Frage: Was ist der Zuschauer eigentlich für ein Mensch? Am besten darüber Bescheid weiß der Zuschauer selbst – und kommt in der Inszenierung »100 MK 50 Blicke« zu Wort, die am Donnerstag, 11. Oktober zu sehen ist. Das Theater ist tot? Na, von wegen. Schon damals, als sich das Kino etablierte, wurde das Theater totgesagt«, so Matthias Günther. »Doch es wird nicht sterben, denn es hat seinen ganz eigenen Charakter, der sonst nirgendwo zu finden ist.«

»Theater schaut genau hin«

Einerseits sei Theater ein Versammlungsort, von denen es immer weniger gibt, »wo man sich lustvoll treffen kann, um anders über die Welt nachzudenken als in den vorgegebenen Strukturen der durchökonomisierten und funktionierenden Arbeitswelt«. Tabus würden an die Oberfläche geholt, Wunden der Gesellschaft ausgestellt und verhandelt. »Theater schaut genau hin«, so Günther. Wesentlich sei auch das Erleben des gegenwärtigen Moments, denn Theater entstehe schließlich genau dann, wenn Schauspieler und Zuschauer aufeinander treffen. »Wir wissen im Grunde nicht, ob wir aus dem Stück heil wieder herauskommen«, sagt der Dramaturg.

Neulich beispielsweise musste die Schauspielerin Brigitte Hobmeier damit umgehen, dass ein Zuschauer sich über das Herbert-Achternbusch-Stück »Susn« so echauffierte, dass er ständig laut herumpolterte. Nichts im Vergleich zu den Skandaljahren Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre, in denen es regelmäßig zum Eklat kam. Beispielsweise als bei der Uraufführung der Einakter »Hartnäckig« und »Heimarbeit« von Franz Xaver Kroetz Demonstranten mit Kartoffeln warfen, ein Jauchefass im Eingangsbereich ausschütteten und Stinkbomben warfen – aus Protest gegen das »Bild des Bauern«, das der Stückeschreiber zeichnete.

Theater als Ort der Rebellion, das wird oft vergessen. Ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten ist vielmehr der Eindruck, es sei ausschließlich, wie oft gesagt, »eine Repräsentationsstätte bürgerlicher Bildungskultur«. Die Folge ist Schwellenangst. »Theater ist etwas anderes, als nur ein Reclamheft zu beleuchten«, so Matthias Günther, der gleichzeitig appelliert, jeder solle sich rantrauen ans Theater: »Wir können jede Kunst betrachten ohne jegliche Vorbildung. Wir müssen uns von der Angst lösen, dass uns womöglich ein gewisser Bildungsrucksack fehlt.«

Man solle einfach mal ausprobieren, hingehen, zuschauen. »Niemand sollte sich selber unterschätzen«, so Günther. Vielleicht lassen sich Berührungsängste ja auch mit einem Klick abbauen: Ab Freitag, 12. Oktober geht eine Website an den Start, die einlädt zu einer Zeitreise mit »100 Schlaglichtern« durch die Geschichte der Münchner Kammerspiele. Das Projekt wurde unter anderem entwickelt von Studierenden der Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität.

Theater online, davon ahnte man vor 100 Jahren freilich noch nichts. In seinen Anfängen waren die Münchner Kammerspiele ein Privattheater und im Münchner Lustspielhaus an der Augustenstraße 89 untergebracht. Im Jahr 1926 dann der Umzug in das heutige Schauspielhaus mit seinen 720 Plätzen. Bis heute mehrere Sanierungen, in Kriegszeiten Brandbombenangriffe. Nach 1933 die Anerkennung als städtisches Theater. Die Rechtsform änderte sich 2004, seitdem wird das Theater als Eigenbetrieb geführt.

Theater auch Talentschmiede

Aktuell gibt es drei verschiedene Spielorte: Schauspielhaus, Werkraum, Neues Haus. Jedes Jahr sind Inszenierungen des Hauses beim Berliner Theatertreffen unter den zehn besten deutschsprachigen Inszenierungen vertreten und zu dem Festival deutscher Gegenwartsdramatik in Mülheim eingeladen. Gastspielreisen führten unter anderem nach Moskau und Tokio. Gestern wie heute zählen die Münchner Kammerspiele zu den hochkarätigsten Bühnen europaweit mit einer eigenen Ausbildungsstätte, der renommierten Otto-Falckenberg-Schule.

Theaterstars gaben sich hier die Klinke in die Hand. Unter anderem Therese Giehse, O.W. Fischer, Gert Fröbe, Rolf Boysen, Katja Riemann und Juliane Köhler. Auch Derrickdarsteller Horst Tappert gehörte zwischen 1956 und 1967 dem Kammerspiel-Ensemble an, die »Tatort«-Kommissare Edgar Selge und Axel Milberg waren knapp 20 Jahre lang dabei. Und der große Mario Adorf, damals noch kein Weltstar, begann an der Bühne der Münchner Kammerspiele 1953 in der Rolle des Maikäfers Susemann in »Peterchens Mondfahrt«.

Nach den legendären Intendanten Otto Falckenberg, August Everding, Dieter Dorn und zuletzt Frank Baumbauer hat der Niederländer Johan Simons das Ruder übernommen. Auch er folgt der Tradition, die wichtigsten zeitgenössischen Regisseure ans Haus zu holen, um weltoffenes, gesellschaftspolitisches, ästhetisch-innovatives Theater zu machen. »Unser Spielplan ist ein Versuch, uns selbst offen und verletzlich gegenüber der Welt zu zeigen«, so Simons. Kein Wunder also, dass deshalb auch wieder ein neues Stück der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek gezeigt wird – Uraufführung im Oktober. Denn offen und verletzlich, darin ist die Jelinek eine wahre Meisterin. Sylvie-Sophie Schindler

Artikel vom 19.06.2012
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