»Münchner Insel« hilft Menschen seit 40 Jahren in Lebenskrisen

Zentrum · Tränenreiches Eiland

Tilmann Haberer ist einer der Seelsorger, die bei der »Münchner Insel« Menschen in Lebenskrisen helfen. Foto: Sylvie-Sophie Schindler

Tilmann Haberer ist einer der Seelsorger, die bei der »Münchner Insel« Menschen in Lebenskrisen helfen. Foto: Sylvie-Sophie Schindler

Zentrum · Es ist ein Ort, an dem die Taschentücher in unmittelbarer Reichweite liegen, liegen müssen. »Hier wird viel geweint«, sagt Tilmann Haber­er. Seit sechs Jahren arbeitet der evangelische Theologe im Leitungsteam der »Münchner Insel«: einer Anlaufstelle für Menschen, denen das Leben gerade besonders übel mitspielt, die meisten stecken mitten in einer Krise.

Gut 32 Menschen suchen täglich Hilfe, insgesamt 8.000 sind es pro Jahr. Da ist der resignierte Manager, der sagt: »Ich weiß gar nicht, warum ich diesen Job überhaupt mache.« Da ist der Arbeiter, der auf dem Handy seiner Frau Liebesbotschaften eines anderen gelesen hat und sich nun verzweifelt fragt: »Warum betrügt sie mich?« Da ist die Studentin, die überhaupt keinen Ausweg mehr sieht und ankündigt: »Ich möchte nicht mehr leben.« Das zeigt mehr als deutlich, wie sehr es eine Einrichtung wie die »Münchner Insel« braucht. Die kostenlose Krisen- und Lebensberatung im S-Bahn-Zwischengeschoss am Marienplatz ist längst als feste Institution etabliert, im April feierte sie ihr 40-jähriges Bestehen. Sie ging an den Start noch vor Eröffnung der S-Bahn Ende Mai 1972. Die Fassade der »Münchner Insel« ist unauffällig, angepasst an die anderen Kioske in ihrer orangefarbenen Blechverkleidung. Menschenmassen laufen täglich daran vorbei. Kein Kreuz ist zu sehen und auch keine anderen christlichen Symbole, obwohl es sich um ein Angebot der Kirchen handelt, Träger sind der evangelisch-lutherische Dekanatsbezirk und das Erzbischöfliche Ordinariat München. »Unser unscheinbares Auftreten hat seinen guten Grund«, so Haberer.

»Wir wollen mittendrin unter den Menschen sein, unsere Hilfe anbieten – ohne deshalb immer gleich das Wort ›Gott‹ im Mund zu führen.« Doch es stehen Veränderungen an. Die angestammten 50 Quadratmeter großen Räumlichkeiten müssen vor­übergehend geräumt werden. Wegen der bevorstehenden Umbauten im Souterrain am Marienplatz ist für die kommenden Monaten der Umzug notwendig. Wohin es genau geht, ist noch nicht entschieden, auf jeden Fall wird es möglichst in der Nähe sein. »Man kennt uns hier, niemand soll bis zum Stachus laufen müssen«, so Haberer. Die Lokalbaukommission hatte die ursprüngliche Idee, ein Provisorium am Viktualienmarkt zu errichten, wieder verworfen. Der Denkmalschutz hatte damals seine Bedenken angemeldet. Die nächste Option wäre der Rindermarkt gewesen. Auch gestrichen, da zu Zeiten des Christkindlmarktes ein Häuschen mit Krisenberatung »den anderen Buden den Platz wegnehme und sich nicht so gut mache«, wie Haberer seitens der Lokalbaukommission mitgeteilt wurde. Derzeit ist dann doch wieder der ­Viktualienmarkt im Gespräch, und da in der Nähe der Heilig-Geist-Kirche. Ein Ort mittendrin im Geschehen, das gehört zum Konzept, denn es macht es einfacher für die Hilfesuchenden. Inzwischen gibt es deutschlandweit 16 Stellen, die ähnlich arbeiten, etwa in Hamburg und Schweinfurt.

Einfach die Insel betreten

»Man kann einfach heraustreten aus dem Gewühl und zu uns hereinkommen«, so Haberer. In der Anonymität der großen Menge würden sich auch Menschen über die Schwelle trauen, die vielleicht ihren Pfarrer oder eine Beratungsstelle vor Ort nicht aufsuchen würden. »Hier sind sie geschützt und werden nicht erkannt«, erklärt der Seelsorger. Man muss keinen Termin vereinbaren, es gibt kein Sekretariat, keinen Wartebereich – wer Hilfe braucht, kommt sofort dran. Thematisch gibt es keine Einschränkung, die Bandbreite reicht über sozialpädagogische, psychologische und theologische Beratung bis hin zur Beantwortung juristischer Fragen. Niemand bekomme zu hören: »Dafür sind wir nicht zuständig«, so Haberer. Gut 60 Prozent der Besucher kommen zum ersten Mal und nutzen ein ausführliches Einmalgespräch. Andere brauchen eine Krisenintervention mit fünf bis maximal 15 Gesprächen, in Einzelfällen gibt es langfristige Begleitung. »Es gibt einen leichten Trend hin zu längerfristiger Beratung«, sagt Haberer. Immer häufiger sind die Problemlagen der Menschen so komplex, dass sie nicht in einer einzigen Sitzung gelöst werden können. Und bei Bedarf wird weitervermittelt, die »Münchner Insel« ist mit 1.600 Fachstellen vernetzt, etwa mit Ehe- und Schuldnerberatungsstellen. Immer häufiger kommen Menschen mit Partnerschaftsproblemen, das nehme, so Haberer, kontinuierlich zu. Auch Themen wie Burnout, die es vor gut fünf Jahren noch nicht gab, sind häufig, Arbeitslosigkeit und Überschuldung ebenfalls. »Es hat bedrückende Dimensionen angenommen«, sagt Sybille Loew, die katholische Leiterin der »Münchner Insel«.

»Es gibt unglaublich viel Einsamkeit«

Die Menschen würden zunehmend in seelische Schieflagen rutschen, heute mehr als früher. »Sie fühlen sich übersehen, missachtet, beschädigt.« Und hätten oft niemanden, mit dem sie reden können, auch das nimmt zu. »Es gibt unglaublich viel Einsamkeit«, so Loew. Oft sei die »Münchner Insel« die letzte Rettung oder auch der Türöffner. Viele sagen: »Endlich ist da jemand, dem ich mich anvertrauen kann«. Wer als nächstes die Tür aufmacht, das weiß niemand. Jeder Tag ist voller Überraschungen. Genau das mag Loew an ihrem Job, sie ist seit zwölf Jahren dabei – auch wenn die Arbeitsbedingungen nicht gerade optimal sind: Es gibt kein Tageslicht, keine frische Luft. Doch es gibt, wie Loew es nennt, den »Zauber der Begegnung«. Und es gibt diese vielen Momente, wo die Menschen dann plötzlich wieder heraus sehen aus ihren Problemen und Möglichkeiten erkennen, die sie vorher nicht sahen. »Da weitet sich der Blick, und das Herz wird leicht«, so Loew. »Münchner Insel« unter dem Marienplatz, Öffnungszeiten Montag bis Freitag 9 bis 18 Uhr, Donnerstag 11 bis 18 Uhr, Tel. 22 00 41, E-Mail info@muenchner-insel.de, Internet www.muenchner-insel.de. Sylvie-Sophie Schindler

Artikel vom 29.05.2012
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