Da schau her! Blindlings dem unbekannten „Freund” seinen Seelenschmerz am Sorgentelefon anvertrauen

München · Albrecht Ackerland über Telefonhilfe

Es traf immer einen Unschuldigen. Und wir hatten eine Mordsgaudi. Es war die Zeit, als man noch selbstverständlich das Telefonbuch nutzte. Heute frage ich mich jedes Mal wieder, wenn die Paletten voller dünnpapiergewordener Prachtschinken vor der Post umeinanderstehen, wer die eigentlich noch braucht, ob es überhaupt noch einen Wert hat, die zu drucken.

Dabei vergesse ich wahrscheinlich, dass nicht jeder für alles immer das Internet nutzt. Vielleicht nutzen die Lausbuben heute für jene Fälle das Netz, wofür wir noch einen Nummernschinken brauchten. Die Prozedur war jedes Mal die gleiche, wenn einer ein paar Stunden allein zuhause war und damit die Vollmacht über das Telefon hatte. Telefonbuchseiten über den Daumen rauschen lassen. Stopp sagen. Blind mit dem Finger über die Seite fahren. Stopp sagen.

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Im besten Fall war das Opfer gleich gefunden, Nummer gewählt, los ging's. „Hallo Tante, bist es du?“ Opfer nicht zu Wort kommen lassen, gleich weiterreden. „Du, Tante, der Onkel Karl ist doch dein Bruder, jetzt sag doch mal, was soll ich dem schenken zu seinem Sechzger? Einen BH, damit er endlich seinen eigenen hat, wird ja auch wirklich immer fetter.“

Das war dann der Moment als mein Spezl und ich uns auf die Zunge beißen mussten. Arme, alte Frau am Telefon. Wir zwölf Jahre alt. Hundsgemein bis über beide Ohrwaschl. BH, allein das Wort ließ es aus uns herausprusten. Es war die Zeit, als Kinder noch nicht einmal das Wort „BH“ kennen durften. So war dann auch meist – und erhofftermaßen – die Reaktion am anderen Ende der Leitung. Bis heute tun mir die Mutterln leid, die sich hoffentlich nicht bis an ihr Lebensende aufregen mussten über die freche, versaute Verwandtschaft am Telefon, die noch nicht einmal eine Verwandtschaft war.

Bei allem Unsinn, den ich so betrieb: Das Telefon ist seitdem ein Freund, dem ich vieles anvertraue. Es gab Zeiten, da war ich kurz davor, den Stecker zu ziehen, und meinen ganzen Seelenramsch in die Muschel zu tröten. Aber dann fand sich doch wieder eine Nummer, die ich wählte, mit einem echten Menschen am anderen Ende. Nein, keine Sorge, ihn hatte ich nicht blindlings aus dem Telefonbuch. Aber wer weiß: Hätte es seinerzeit ein Sorgentelefon gegeben, von dem ich gewusst hätte, dass da jemand wie ich sitzt: Ich hätte mir die Nummer herausgeblättert.

Artikel vom 04.11.2010
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