Überwachung am Sendlinger-Tor-Platz: Segen oder Fluch?

Zentrum · Was nutzt Kontrolle?

Die Streetworker Rita Wilgen und Markus Bosnjak sorgen sich, wenn ihre Kunden wegen der Videokameras nicht mehr zum Sendlinger Tor kommen. 	Foto: cs

Die Streetworker Rita Wilgen und Markus Bosnjak sorgen sich, wenn ihre Kunden wegen der Videokameras nicht mehr zum Sendlinger Tor kommen. Foto: cs

Zentrum · Die Vo­rübereilenden nehmen sie vermutlich kaum wahr: Die schlichten, schwarzen Kugeln an den Masten hoch über den Köpfen der Passanten könnte man für Lautsprecher oder Straßenleuchten halten, würde nicht jeweils ein kleines Schild darauf hinweisen, dass es sich um Videoüberwachung handelt.

Seit die Polizei im Juli an drei strategischen Stellen auf dem weitläufigen Sendlinger-Tor-Platz, diesseits und jenseits der Sonnenstraße, Kameras installiert hat, ist Sinn und Zweck der polizeilichen Maßnahme zur Beobachtung der »Szene« strittig. Denn Alkohol- und Drogenabhängige haben sich schon seit Jahren, vor allem aber nach der Vertreibung vieler vom Orleansplatz, zunehmend auf dem verkehrsgünstigen Areal am Ende der Sendlinger Straße niedergelassen.

Weitere Artikel zum Thema

Die Geschäftsleute und Passanten, die hier beim Stadtbummel oder in der Mittagspause auch mal verweilen möchten, begrüßen verständlicherweise die Dauerbeobachtung, einige Stadtpolitiker stehen ihr eher kritisch gegenüber. Die Fraktion der Linken im Stadtrat hat jetzt eine Anfrage an die Stadtverwaltung gerichtet mit dem Tenor, die Kameras würden mehr schaden als nutzen. Eine Antwort liegt wegen der Sommerpause noch nicht vor. Laut Linken-Stadtrat Orhan Akman soll der Stadtrat erneut über dieses Thema diskutieren. Denn er sieht durch die Videoüberwachung die Arbeit der städtischen Sozialarbeiter in Gefahr, die sich am Sendlinger Tor um die Drogenabhängigen kümmern. Denn wenn Junkies und Alkoholabhängige aus Angst vor der Polizei nicht mehr kommen, sind sie für die Streetworker auch nicht mehr erreichbar.

Rita Wilgen und Markus Bosnjak vom Referat für Gesundheit und Umwelt schauen jede Woche drei bis vier Mal dort vorbei. Die beiden Streetworker sind zuständig für verwahrloste Drogenabhängige im gesamten Stadtgebiet. Sie verteilen sauberes Spritzbesteck. »Damit sich wenigstens keiner mit einer schmutzigen Nadel ansteckt«, sagt Wilgen. Wer Hunger hat, obdachlos ist oder krank, aber nicht krankenversichert, der wird an entsprechende Anlaufstellen vermittelt.

Die beiden können schon verstehen, dass ihre Kunden durch den oft rüden und lauten Umgang untereinander für unbeteiligte Passanten bedrohlich wirken und nicht gerade dazu einladen, sich neben sie auf die Parkbank zu setzen. Aber die »polytoxen« Abhängigen – Menschen, die verschiedene legale oder illegale Drogen nehmen – könnten hier soziale Kontakte pflegen.

Viele sind Patienten in den vier umliegenden Substitutionspraxen, in denen sie täglich ihren Ersatzstoff abholen, um die Folgen des Drogenentzuges zu mindern. »Diese Leute haben zwar meist schon ein Dach über dem Kopf, aber sie leben unter schwierigen Wohnverhältnissen und haben sehr wenig Geld«, erklärt Rita Wilgen. Längst nicht jeder, der in Substitution ist, sei nach dem Gang zum Arzt auf dem Platz zu finden, manche jedoch blieben über Stunden. »Es sind sehr soziale Menschen. Und irgendwo müssen sie ja hin.« Die Videokameras würden zweifelsohne das subjektive Sicherheitsempfinden der Bürger steigern, sagen die beiden Streetworker.

»Der harte Kern lässt sich dadurch aber nicht so schnell vertreiben«, betont Bosnjak. Das sei damals am Orleansplatz anders gewesen, als die Kameraüberwachung von harten Polizeieinsätzen begleitet wurde. Hundertschaften der Polizei hätten dort mehrmals am Tag sehr strenge Kontrollen durchgeführt, erinnert sich der Sozialarbeiter. Nach wenigen Wochen hätten die Junkies das Feld geräumt. Ähnliche Sondereinsätze seien bislang am Sendlinger-Tor-Platz ausgeblieben.

Laut Markus Dengler, Pressesprecher des Münchner Polizeipräsidiums, ist am Orleansplatz seinerzeit nicht mehr Polizeipräsenz gezeigt worden als jetzt in der Münchner Innenstadt. Auch wenn bislang noch keine belegfähigen Aussagen über eine Veränderung der Kriminalität möglich seien, habe sich die Situation auf dem Sendlinger-Tor-Platz nach der Installation der drei Videokameras bereits spürbar verbessert, sagt Dengler. Mehr Bürger als zuvor würden sich auf den Bänken zur Mittagspause niederlassen oder auf die nächste Straßenbahn warten. Der Zugang der Streetworker zu den Szeneangehörigen und die Aufrechterhaltung bestehender Kontakte werde allerdings vorübergehend erschwert. Und das Problem sei auch nicht neu.

»Der Ansatz, Betäubungsmittelabhängige wieder in die Gesellschaft zu integrieren, scheint am Sendlinger-Tor-Platz jedoch bereits vor der Videoüberwachung an seine Grenzen gestoßen zu sein, da Drogenabhängige sich für Hilfsangebote kaum mehr zugänglich zeigten«, erklärt Dengler. ´ Auch wenn von Gewerbetreibenden und Passanten bereits positive Rückmeldungen verzeichnet wurden, Rita Wilgen und Markus Bosnjak machen sich Sorgen, wenn sie nicht wissen, wo ihre Kunden sind. »Hilfe finden sie nur im öffentlichen Raum, zuhause sieht sie niemand.« Claudia Schmohl

Artikel vom 14.09.2010
Auf Facebook teilen / empfehlen Whatsapp

Weiterlesen





Wochenanzeiger München
 
Kleinanzeigen München
 
Zeitungen online lesen
z. B. Samstagsblatt, Münchener Nord-Rundschau, Schwabinger-Seiten, Südost-Kurier, Moosacher Anzeiger, TSV 1860, ...