Zeitzeuge berichtet Schülern über das Dritte Reich

Harlaching · Gegen das Vergessen

Hugo Höllenreiner mit Geschichtslehrerin Anja Sieber und den Schülern (2. v. l.) Felix Hendseron und Stefan Schwerin im Albert-Einstein-Gymnasium.   Foto: mst

Hugo Höllenreiner mit Geschichtslehrerin Anja Sieber und den Schülern (2. v. l.) Felix Hendseron und Stefan Schwerin im Albert-Einstein-Gymnasium. Foto: mst

Harlaching · Die Nazi-Gräuel hat er nur deswegen überlebt, weil er im richtigen Augenblick vor Erschöpfung zusammenbrach und die SS-Leute ihn für tot hielten. »You are free«: Das waren die ersten Worte, die der damals elfjährige Hugo Höllenreiner Tage später vernahm. Er verstand den Sinn nicht, Englisch hatte er ja nie gelernt.

Es ist der 15. April 1945, die Alliierten haben das Konzentrationslager Bergen-Belsen von den Nationalsozialisten befreit. Die SS-Offiziere sind abgezogen, zurückgeblieben ist ein Knäuel ineinander verschlungener Leichen. Gruben, gefüllt mit Toten, Skelette, ausgemergelte Häftlinge, Krematorien, Stacheldrahtzäune, die Lagerbaracken – und über allem ein unbeschreiblicher Gestank, gemischt mit einer apokalyptischen Stille: Höllenreiner und seine Familie, die als Sinti gemäß der NS-Rassenideologie vernichtet werden sollten, waren dem Tod um ein Haar entkommen. »You are free«: Mit diesen Worten eines britischen Soldaten endete ein Martyrium, das stellvertretend für das Schicksal von Millionen von Menschen steht und das noch heute in seinem Grauen nicht zu fassen ist.

Im Harlachinger Albert-Einstein-Gymnasium herrscht bedrückende Stille. Niemand von den rund 50 Schülern der Kollegstufe will etwas fragen, als die Betreuerin für das Fach Geschichte, Anja Sieber, nach der eineinhalbstündigen Schilderung des Mannes mit dem silbergrauen Haar und dem schwarzen Schnurrbart das Wort ergreift und, sichtlich selbst schockiert, ein wenig ratlos in die Runde blickt. Sprachlosigkeit, Entsetzen, aber auch ein warmer und lang anhaltender Applaus für den Redner, der von einer ­unglaublichen Sympathie zeugt – das sind die Reaktionen, die Höllenreiner, heute 75 Jahre alt, erlebt. Er ist zutiefst dankbar. »Was passiert ist, darf sich nie wiederholen«, flüstert er beinahe, und in der Stimme schwingt wieder der helle bayerische Teint des gebürtigen Münchners mit. Zwei Schüler gehen auf ihn zu und schütteln ihm die Hand. »Das war das ­Ergreifendste, was ich je gehört habe«, bekräftigt Stefan Schwerin, und es klingt fast wie ein Stammeln. »Man liest immer in den Geschichtsbüchern davon, aber vorstellen kann man es sich nicht.«

Auch Felix Henderson ist betroffen: »Ich kannte natürlich die Fakten, aber das, was ich gehört habe, übertrifft alles.« Hugo Höllenreiner war nach Max Mannheimer und Ignaz Bubis der dritte Zeitzeuge, der auf Einladung Siebers über sein Martyrium in den Konzentrationslagern der Nazis sprach. Rund 500.000 Sinti und Roma fielen dem Völkermord der Nazis zum Opfer. Höllenreiners Martyrium beginnt im März 1943, als Polizisten das Haus der Familie in der Deisenhofener Straße umstellen. Bereits seit Jahren wird sein Vater, ein Pferdehändler, systematisch gedemütigt, als »Zigeunermischlinge mit auffälligem Einschlag von Zigeunerblut« werden auch seine fünf Kinder nicht geschont und von Klassenkameraden gehänselt und verprügelt. Mit seinen Eltern und den fünf ­Geschwistern wird der neunjährige Hugo ins Polizeipräsidium an der Ettstraße gebracht, von dort in einen Viehwagen gepfercht und in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt. Das »Zigeunerlager« besteht aus 30 Unterkunftsbaracken, die ursprünglich als Pferdeställe gebaut waren. Darin waren jeweils 800 bis 1.000 Menschen zusammengepfercht. Die hygienischen Verhältnisse sind nicht zu beschreiben.

»Am schlimmsten sind Hunger, Durst und Kälte. Sich dagegen nicht schützen zu können, ist das Allerschlimmste«, schildert Höllenreiner. Tausende sterben an Unterernährung, Krankheiten und den Misshandlungen. Durch die Ritzen der Baracke kann der Junge mit seinen Geschwistern die Rampe sehen, an der Züge mit unzähligen Menschen ankommen, die dann oft direkt in die Gaskammern geschickt werden.

Die Höllenreiners selbst werden anfangs zu »Aufräumarbeiten« eingesetzt. Auch die Bestie in Menschengestalt, der berüchtigte SS-Arzt und Folterer Joseph Mengele, ist in Auschwitz und dort zuständig für das »Zigeunerlager«.

Er ist berüchtigt für seine Menschenversuche, lässt Kinder bei vollem Bewusstsein sterilisieren und kastrieren. Zu ihm muss auch Hugo ­Höllenreiner: »Ich wurde auf einen Holzbock gebunden und meine Beine weit gespreizt. Sie schnallten meinen Kopf fest und setzten mir eine Art Kopfhörer aus Holz auf, damit ich nicht ­sehen und hören konnte, was er da unten trieb.« Es wäre ihm egal gewesen zu sterben – nur eines wollte der Knabe nicht: »Dass ich zu einem Mädchen gemacht werde.« Sollte Mengele das vorhaben, würde er schreien, so laut schreien, »dass niemand seine Arbeit weiter machen kann«, wie Höllenreiner immer wieder wiederholt. Zu einem »Mädchen« wurde er nicht operiert, dafür trieb ihm Mengele einen Stab mit geometrischen Formen unter die Haut und malträtierte seine Geschlechtsteile. Höllenreiner wurde ohnmächtig – und überlebte. Durch einen Trick des Vaters gelingt es der Familie, die in der Gaskammer enden sollte, Auschwitz zu verlassen. Zuerst werden sie in die Konzentrationslager Ravensbrück und Mauthausen, später nach Bergen-Belsen deportiert. Dieses Lager war für ihn das Schlimmste: »Es gab nichts mehr zu essen und zu trinken. Überall waren nur Berge von Leichen zu sehen.«

Am 15. April 1945 wird Hugo Höllenreiner mit seiner Mutter und Schwester von englischen Truppen befreit. Nie vergessen wird er den Augenblick, als er aus Lautsprechern die Durchsage hört: »You are free, ihr seid frei!«

mst

Artikel vom 08.04.2009
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