Junge Musik ist ein Stiefkind der angeblichen Musikmetropole

München taub für Popmusik

Die begehrten europäischen Musikpreise des Fernsehsenders MTV – die MTV Awards – werden in diesem Jahr in der Münchner Olympiahalle verliehen. Viele Stars werden bei diesem Musikspektakel dabei sein, neben den „No Angels“ und „Silbermond“ US-Künstler wie Pink und Snoop Dogg. Bereits im Vorfeld aber gibt es hässliche Zwischentöne: Das Großereignis findet an Allerheiligen (1. November) statt, nach Ansicht der katholischen Kirche verstößt das gegen das feiertägliche Tanzverbot.

„Wenn ein Herr Timberlake nur an Allerheiligen Zeit hat, können wir deshalb unsere Feiertagskultur nicht auf den Wertstoffhof schaffen“, sagte Kirchensprecher Winfried Röhmel. Dass die Stadt dennoch grünes Licht für die Pop-Gala gegeben hat, findet er „bedauerlich und respektlos“. Popmusik-Freunde hingegen finden eher bedauerlich und respektlos, dass die Stadt an Allerheiligen die Popmusik fördert – im übrigen Jahr aber wenig Sinn für das vielleicht wichtigste Ausdrucksmittel der Jugend zu haben scheint. Sie hoffen, dass die MTV Awards der verschlafenen Landeshauptstadt endlich einmal kreativen Schwung geben.

Selbst Mehmet Scholl kritisiert den Umgang mit Musik in München. Nach seinem Abschied beim FC Bayern vor ein paar Wochen beklagte er, dass Jennifer Lopez’ Mainstream-Gedudel „Let’s get loud“ drei Jahre nach Erscheinen abgespielt wurde – und das bei einem Top-Spiel gegen eine englische Mannschaft, „die in Musik ja immer top sind“. Scholl: „Ich habe mir beim Warmmachen gedacht: Was denken die jetzt von uns? Dass wir Wilde sind?“

Man könnte an dieser Stelle einwerfen: Zumindest findet Pop in der Allianz-Arena statt. Ansonsten nämlich ist es ein Stiefkind in der Stadt und wird im Wesentlichen nur in kommerziellen Konzerthallen geboten – gegen stattliche Eintrittspreise, versteht sich. Denn wie Lydia Hartl einmal sagte, die bis vergangenen Juli Kulturreferentin der Stadt war: „Popmusik braucht keine Förderung, denn Pop-Förderung ist Wirtschaftsförderung.“ Eine solche Sicht der Dinge ist vielleicht der Grund, warum beim alljährlichen Kulturempfang der Stadt, bei dem Hunderte von Kulturschaffende eingeladen werden, weder die Macher des Atomic Cafés, des Backstage oder der Muffathalle anzutreffen sind – ja nicht einmal die Organisatoren des Theatron, des vierwöchigen Gratis-Musikfestivals im Olympiapark, dessen Schirmherrschaft Ude jedes Jahr gerne und stolz annimmt.

Überhaupt das Theatron. Neben Muffathalle und Feierwerk eine der wenigen von der Stadt regelmäßig geförderten Institutionen, bei der sich vieles um den Pop dreht. Das Theatron jedenfalls wird jedes Jahr von Ude bejubelt, weil es mit rund 100.000 Besuchern und einem Eintrag im Guiness-Buch der Rekorde als längstes Festival der Welt eine Münchner Vorzeige-Veranstaltung ist. Pferdefuß des Gratis-Konzertmarathons allerdings ist, dass die Künstler für ihren Auftritt lediglich eine Aufwandsentschädigung bekommen und die Festivalleiter jeden Cent dreimal umdrehen müssen, um die Technik und sich selbst finanzieren zu können. OB Ude findet das nicht weiter schlimm, es sei ja „eine große Ehre, in diesem wunderschönen Ambiente am Olympiasee vor Tausenden von Zuschauern auftreten zu können.“

Judith Becker von der Festivalleitung freilich ist dankbar, dass die Stadt dem Theatron finanziell unter die Arme greift. Der Betrag aber reicht längst nicht aus, um den Fortbestand des Festivals zu sichern – „jedes Jahr hängt Sein oder Nichtsein des Theatron davon ab, ob wir ausreichend Sponsoren aus der Wirtschaft finden“, sagt Becker. Natürlich hofft sie, dass über kurz oder lang ein höherer Sockelbetrag der Stadt dem Festival die nötige Planungssicherheit verschafft. Vielleicht könnte dabei Hartls Nachfolger, der neue Kulturreferent Hans-Georg Küppers, helfen, der ein offenes Ohr für junge Kultur haben soll.

Ein Denkfehler in der Kulturpolitik des Münchner OBs jedenfalls mag die Zuständigkeit für Jugendkultur sein. Bislang ist Popmusik im Sozialreferat angesiedelt – im Gegensatz zur Klassik, die dem Kulturreferat unterstellt ist, obwohl sie – das wird niemand leugnen – ebenfalls ein wichtiger Wirtschaftsfaktor im Musikgeschäft ist. Jedenfalls: „Städtische Unterstützung alternativer Kultur wird nicht als Kultur-, sondern als Sozialpolitik begriffen, das heißt als Maßnahme, um problematische Jugendliche wieder in wohlgeordnete Bahnen zu lenken“, kritisiert Elena Schmidt, Spitzenkandidatin der Grünen Jugend für die Kommunalwahlen im März 2008. „Damit aber kommunale Kulturpolitik eine ihrer wichtigsten Aufgaben, nämlich die Förderung von Künstlern, erfüllen kann, ist es unbedingt notwendig, die Akteure der Rock- und Popmusikszene auch wirklich als Künstler zu begreifen und nicht als Jugendliche, die mit sozialen Maßnahmen von der Straße geholt werden müssen.“

Der Geograf Alexander Bock, der eine Diplomarbeit zum „Popstandort München“ verfasst hat, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: München sei klar definiert als Standort der Hochkultur und der E-Musik, der „ernsten Musik“. Oder anders gesagt: München ist ein schlechtes Pflaster für kreative und experimentelle Künstler – für junge Musik. Für Bock ist es entsprechend nicht verwunderlich, dass sich der Sender MTV von München nach Berlin verzogen hat. Bis 2004 hatte die Deutschland-Abteilung des weltweit wichtigsten Musiksenders seinen Sitz in Schwabing – dann war der Lockruf des aufregenden Berlin zu groß. Ein anderer Indikator für den Grad der Münchner Verschlafenheit: Die Hälfte aller Münchner Plattenverlage haben sich der Klassik, der Volksmusik und der Werbung verschrieben. Innovative Musik findet kaum statt, übrigens im gesamten Freistaat nicht. Wolfgang Petters, Chef des in Landsberg und München angesiedelten Labels „Hausmusik“, hat die Probleme des Pop-Standorts Bayern sogar vor einiger Zeit im Landtag beklagt. Sein Fazit: „Das interessiert nur die Politiker, die nicht die Entscheidungen fällen.“ Auf Bayern-Ebene interessieren sich also maximal SPD und Grüne für junge Musik – die Parteien, die in München zu wenig an einer lebendigen jungen Kulturszene arbeiten.

So ist es sogar möglich geworden, dass der Provinz-Ort Weilheim eine attraktivere Popmusikszene als die Landeshauptstadt bietet. Für Berlin wäre es dagegen undenkbar, dass man sich von einem „Kaff aus dem Umland“ den Rang ablaufen ließe. Aber in Städten wie Berlin sitzt auch ein Pop-Experte im Rathaus.

Doch die Hoffnung auf Besserung stirbt auch in München zuletzt, zumal es auch hier zumindest ein paar Politiker gibt, die nicht taub sind für Popmusik. Ein hervorragendes Beispiel für Jugendkultur-Förderung, die bereits vor der Haustür stattfindet, ist der Bandwettbewerb „Rock in Fürstenried“. Dieser fand heuer zum zweiten Mal auf Initiative des Bezirksausschusses 19 statt, zu dem die Viertel Thalkirchen, Obersendling, Forstenried, Fürstenried, Solln gehören. Zwei Ausschuss-Mitglieder jedenfalls besuchten örtliche Bands im Vorfeld des Contests in ihren Proberäumen, um die vielversprechendsten von ihnen zum Wettbewerb zu laden.

Gewonnen hat den „Rock in Fürstenried“ dieses Jahr übrigens die Cello-Poprockband „Angaschmäng“, der durch ihren Sieg einige Türen geöffnet wurden: neben Auftritten in Tschechien und der Schweiz wurde sie unter anderem für das Theatron-Festival im Olympiapark gebucht. Bekommen haben die Musiker hierfür nicht viel mehr als die oben zitierte Ehre. Das große Geld, das Popmusik erwirtschaften kann, ist hingegen Frau Pink und ihren Kollegen vorbehalten, die an Allerheiligen in der Olympiahalle spielen.

Von Nadine Nöhmaier

Artikel vom 04.10.2007
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