Studie: Prügeleien „im Namen der Ehre“ sind alltäglich

München - Junge Machos, die zuhauen

Orientierungslosigkeit – ein Problem heutiger Jugendlicher, vor allem, wenn sie mangelhaft ausgebildet sind. Bild: Archiv

Orientierungslosigkeit – ein Problem heutiger Jugendlicher, vor allem, wenn sie mangelhaft ausgebildet sind. Bild: Archiv

Türkische Jugendliche begehen in Deutschland dreimal so viele Gewalttaten wie ihre einheimischen Mitschüler – eine erschreckende Erkenntnis. Christian Pfeiffer erklärt, woran das liegt: Der Chef des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen hat kürzlich eine Studie vorgestellt, in der die Gewaltbereitschaft von Migrantenkindern untersucht wurde. Als eine der Ursachen hat er eine verzerrte Auffassung von Männlichkeit ausgemacht – und die ist in München stärker verbreitet als anderswo.

Pfeiffer hat im Gespräch mit Neuntklässlern viele Faktoren, die Gewaltbereitschaft auslösen, entdeckt: Perspektivlosigkeit, Gewalt in der Familie, zu viel Fernsehen und Computerspiele. Und eben die Macho-Kultur, die in München mehr gelebt wird als anderswo. Was in Bezug auf aggressive Jugendliche bedeutet: Türkische Buben in München sehen Gewalt als erlaubtes Mittel zum Zweck, wenn sie „im Namen der Ehre“ verübt wird.

Cumali Naz, Vorsitzender des Münchner Ausländerbeirats, kann sich zwar nicht erklären, warum diese Kultur in München mehr verbreitet sein soll als anderswo, aber er ist sich des Problems bewusst: „Speziell unter Einwanderern aus den ländlichen Gegenden der Türkei sind noch archaische Ansichten zum Thema Familien- und Gruppenehre verbreitet, die nicht in unsere moderne Gesellschaft passen“, erklärt er.

Damit diese Ansichten nicht an die jüngere Generation vererbt werden, gelte es, „die Erziehungsvorstellungen der Eltern möglichst früh unter die Lupe zu nehmen“. Die Einrichtungen, die eine solche Präventionsarbeit leisten könnten – Naz nennt hier Familienberatungsstellen oder die rund 400 Migrantenvereine in München – bräuchten allerdings mehr Unterstützung.

Eine weitere alarmierende Entwicklung, die Pfeiffer speziell in München beobachtet hat: Der Anteil der türkischen Kinder, die aufs Gymnasium gehen, ist rückläufig. 1998 waren es 18 Prozent, 2005 nur noch 13. In anderen Städten – Berlin ist die Ausnahme – geht der Trend in die umgekehrte Richtung.

Naz allerdings wundert sich nicht über diese Zahlen. Seiner Auffassung nach würde die „unmenschlich“ frühe Selektion an Bayerns Schulen Immigrantenkinder benachteiligen: „Vier Jahre Grundschule sind für die meisten nicht genug, um ihre Fähigkeiten zu entfalten.“ Zu groß seien für viele die Sprachbarrieren – „türkische Schüler sind die großen Verlierer dieser Auslese-Mentalität“.

In seiner Heimat sei das anders: Das türkische Schulsystem sei laut Naz zwar ebenfalls mehr als verbesserungswürdig, aber damit, dass Grundschüler erst nach acht Jahren in Ober- und Berufsschüler aufgeteilt werden, fahre man definitiv besser.

Die deutsche Hauptschule dagegen, auf der ein Großteil der türkischen Kinder landet, ist für Pfeiffer wie Naz längst Teil des ganzen Problems geworden. Pfeiffer spricht mit Vorliebe von der „Rest- und Problemschule“ und ist sicher, dass sie ihren Teil zur Gewaltbereitschaft der Schüler beiträgt. Der frühere SPD-Politiker – von 2000 bis 2003 war er Justizminister in Niedersachsen – fordert daher ihre Abschaffung zu Gunsten einer Einheitsschule.

Der bei der Vorstellung von Pfeiffers Studie in München anwesende Günther Beckstein (CSU) widersprach: Nach Ansicht des angehenden Ministerpräsidenten hängt die Gewaltbereitschaft eher davon ab, aus welcher gesellschaftlichen Schicht die Jugendlichen stammen und welche Zukunftschancen sie haben. Man müsse die Hauptschulen daher verbessern, damit sie wieder bessere Perspektiven bieten.

Naz hingegen findet, dass die Hauptschule „nicht mehr reformierbar ist“. Allein der Ruf, den die Schulart mittlerweile hat, mache sie zu einem hoffnungslosen Fall: „Hauptschulabgänger gelten als Verlierer. Ich kriege ständig mit, welch enorme Schwierigkeiten Abgänger bei der Ausbildungssuche haben – ganz zu schweigen von den 20 Prozent, die die Schule ohne Abschluss verlassen.“ Die Hauptschule sei längst nicht mehr nur Symptom, sondern auch Ursache des Problems.

Doch auch wenn Naz’ Ruf nach einer Gesamtschule nicht erhört wird, hält der Beiratschef Pfeiffers Erkenntnisse für unheimlich wichtig: „Solche Erkenntnisse muss man den Eltern nahe bringen, damit sie verstehen, womit es zusammenhängt, wenn ihre Kinder gewaltbereit werden.“ Und etwas dagegen tun. Von Martin Hoffmann

Artikel vom 14.06.2007
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