Immer mehr Jugendliche leben auf der Straße

Münchner - Drogen und kein Dach über dem Kopf

Drei Streetworker an ihrem „Einsatzort“ im Münchner U-Bahnhof (v.l.): Maren Kuwertz, Daniel Jaensch und Vera Schweigard. Foto: Klaus Wagner

Drei Streetworker an ihrem „Einsatzort“ im Münchner U-Bahnhof (v.l.): Maren Kuwertz, Daniel Jaensch und Vera Schweigard. Foto: Klaus Wagner

Die Münchner Sucht- und Präventionsstelle „Condrobs“ schlägt Alarm: Immer mehr Jugendliche leben auf der Straße. Betreuten die Streetworker vor drei Jahren noch 308 Heranwachsende, die kein Dach über dem Kopf hatten und daher an der Isar oder in Parks schliefen, so sind es mittlerweile 439. Und die Dunkelziffer der gefährdeten Personen dürfte noch viel höher liegen: Jeder zweite Jugendliche bräuchte Hilfe, lautet das Fazit von „Condrobs“-Streetworker Daniel Jaensch.

Am Ende ging alles ganz schnell. Dauerstreit mit den Eltern, schlechte Noten, die er mit nach Hause brachte und die die Wut des Vaters weiter anheizten, Ausschluss vom Unterricht wegen ständigen Schwänzens, schließlich der Rauswurf von zu Hause: Mit 15 Jahren lebte Richard Meuckel (Name von der Redaktion geändert) auf der Straße. Sein zu Hause waren drei Jahre lang die Brücken und Parkanlagen Münchens und Hamburgs, „geschlafen habe ich im Englischen Garten und an der Alster“. Dann kamen die quälenden Depressionen. Um den inneren Frust zu ignorieren, betäubte er sich mit Drogen: Mit Alkohol vor allem, mit täglich zwei Flaschen Schnaps, „weil das Zeug am billigsten ist“. Aber auch mit Zigaretten, Haschisch und Kokain, bisweilen auch mit LSD und Ecstasy.

Heroin hat er „nur“ geschnupft, aber nicht gedrückt – wahrscheinlich seine Rettung, wie es Meuckel im Rückblick sieht: „Sonst wäre das das Ende gewesen.“ Dass er nicht abstürzte, ist einer Einrichtung zu verdanken, die es seit 1997 in München gibt: der Präventions- und Suchthilfe „Condrobs“, zu der auch „ConAction“ gehört. Ihre Methode sind die sogenannten „niedrigschwelligen Hilfsangebote“. Die folgen einem nahe liegenden Prinzip. Da Jugendliche mit schweren Drogenproblemen von sich selbst aus Therapiezentren meist meiden, müssen die Streetworker eben auf sie zugehen: auf der Straße, in Bars, in den Untergeschossen von S- und U-Bahn oder in den Parkanlagen. Dort bauen sie oft mühsam Kontakte mit ihnen auf, bieten ihnen Gespräche an, vermitteln eine Unterkunft und versuchen, neue Lebensperspektiven für sie zu entwickeln. 2001 bezog „Condrobs“ neue Räume in der Schillerstraße, direkt am Hauptbahnhof – dort, wo sich viele Drogenabhängige aufhalten.

Für Sozialarbeiterin Maria Kuwertz ist diese Methode der unmittelbaren Nähe der einzige Weg, um an Menschen heranzukommen, die den Kontakt zur Gesellschaft längst abgebrochen haben und nicht mehr in der Lage sind, die eigene Situation einzuschätzen und Hilfe anzufordern: „Wir haben beobachtet, dass die Zahl von Mädchen in München, die drogenabhängig sind, in den letzten Jahren anstieg. Gleichzeitig gibt es aber für sie kein adäquates Hilfsangebot oder sie nahmen die klassischen Angebote der Suchthilfe nicht in Anspruch.“

Dabei klingt deren Zahl erschreckender denn je zuvor. 439 Heranwachsende haben die „ConAction“-Streetworker im vergangenen Jahr betreut. 2004 waren es noch 308 Jugendliche. Die Dunkelziffer, schätzt Sozialarbeiter Daniel Jaensch, liegt aber noch viel höher: „Bei jedem zweiten Jugendlichen in München besteht Hilfebedarf.“ Ein Blick auf Zahlen und Statistiken zeigt dabei auf alarmierende Weise, dass das Phänomen längst nicht mehr an „Randbezirken“ der Gesellschaft festzumachen ist. Zwar haben rund 50 Prozent der Jugendlichen, die auf der Straße leben, die Hauptschule besucht oder abgebrochen und kommen aus einem Milieu mit schwierigem familiären Hintergrund. Doch mit knapp 30 Prozent der obdachlosen Heranwachsenden – darunter auch Meuckel – standen 2004 bereits die Gymnasiasten an zweiter Stelle. Auffallend: Am „stabilsten“ sind Realschüler und Jugendliche ohne Schulabschluss.

Können Drogenkonsum und Perspektivlosigkeit eine Folge materiellen Reichtums sein? „Es gibt den Trend der Wohlstandsverwahrlosung“, schildert der Leiter der Jugendabteilung von „Condrobs“, Frederik Kronthaler. „Wenn beide Elternteile arbeiten, der berufliche Erfolgsdruck hoch und der Wunsch nach viel Geld groß ist, dann kann die Bereitschaft, mit den Kindern etwas zu unternehmen, sinken.“ Die hängen dann vor der Glotze, am PC, vereinsamen innerlich vor Killerspielen – werden im Sog von Frust, Aggression und Depression mitgerissen, werden schließlich drogenabhängig und landen auf der Straße. Dabei trifft es beide Geschlechter gleichermaßen: 213 Jugendliche, die die „ConAction“-Streetworker 2006 betreut haben, waren Jungs, 236 Mädchen. Dank Einrichtungen wie „ConAction“ konnten zahlreiche von ihnen aufgefangen werden. „Wir blicken auf ein erfolgreiches Jahr 2006 zurück: Unter den Jugendlichen auf der Straße sind wir bekannter als je zuvor“, freuen sich Jaensch und Kuwertz. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisteten die „ConAction-Buttons“, Clips zum Anstecken, die einen hohen Wiedererkennungswert haben und bei den Jugendsubkulturen auf starken Zuspruch stoßen.

Auch für Meuckel war die Arbeit mit „ConAction“ ein Segen. Er ist jetzt 18 und geht wieder zur Schule. Mit den Eltern hat er sich versöhnt, auch die Depressionen bekam er leidlich in den Griff. Meuckels Pläne sind ehrgeizig: Zuerst will er den Hauptschulabschluss nachholen, später aufs Gymnasium, vielleicht auch studieren. Merkwürdig an ihm ist nur sein Äußeres: Er hat ein blasses Gesicht, trägt eine schwarze Fliegerjacke und eine rot-schwarz karierte Hose. Die widerborstig gekämmten Haare haben etwas von einer Punk-Frisur, und doch lässt sich sein Aussehen nicht so recht in eine Schublade stecken. Er verkörpert eine seltsame Mischung aus Punk und rechtsradikal. Für Kronthaler ist dieser „Stilmix“ Ausdruck innerer Orientierungslosigkeit: „Viele kleiden sich als Gothic, Grufti oder auch als Nazi, aber das ist nur Etikette. Damit verstecken sie sich vor ihren massiven psychischen Problemen.“ Von Rafael Sala

Artikel vom 29.03.2007
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