Rund tausend Gäste kamen schon zu Familie Finkenstaedt nach Hause – ein Besuch bei den wohl gastfreundlichsten Münchnern

München - „Meine Tür steht immer offen!“

Fremdenführer, Zeitzeuge, Aufklärer: Michael Finkenstaedt hat nicht viel von der Welt gesehen. Aber er hatte schon die ganze Welt zu Gast – sein Gästebuch zeugt davon. Foto: GW

Fremdenführer, Zeitzeuge, Aufklärer: Michael Finkenstaedt hat nicht viel von der Welt gesehen. Aber er hatte schon die ganze Welt zu Gast – sein Gästebuch zeugt davon. Foto: GW

München - Ein kleines Reihenhaus im Münchner Westen, die Mauern efeubewachsen, sieben Stufen führen zum Hauseingang. Die Tür öffnet ein freundlicher, älterer Herr, weißgraues Haar, weißes Hemd, darüber ein buntkarierter Pullunder: Michael Finkenstaedt. Nichts Auffälliges ist an dem Mann, außer vielleicht sein fester, warmer Händedruck. Der kommt wohl von den vielen Gästen, die Finkenstaedt schon in seinem Leben bei sich daheim begrüßt hat.

Ein Auto hat Michael Finkenstaedt nie besessen, auch sonst hat es bei sechs Kindern nur für das Nötigste gereicht. Aber dennoch war sein Haus stets voller Gäste. Für ihn und seine Frau Agnes war klar: „Wenn wir schon nicht in die Welt reisen können, dann holen wir uns die Welt nach Hause“, erzählt er. Zunächst aber klopfte die Welt von selber an: Der erste ausländische Gast war 1949 ein Afrikaner, der sich verlaufen hatte und plötzlich vor der Tür der Finkenstaedts stand, auf der Suche nach einer Schlafgelegenheit. Er wurde eingelassen. Die weiteren Gäste kamen weniger überraschend. Schon in den 50er Jahren führte Finkenstaedt im Auftrag des Schulreferats Besucher durch München und immer öfter auch zu sich nach Hause.

Die meisten Gäste lernte er aber immer noch zufällig kennen. Einem Pakistani hatten Finkenstaedt und seine Frau nur eine Frage beantwortet, kurz darauf war er bei ihnen zu Gast. Insgesamt sechs Mädchen und Jungen aus Polen, Frankreich oder den USA blieben ein ganzes Jahr, für Finkenstaedt sind es inzwischen auch „meine Kinder“. Seine „irische Tochter“ verdankt Finkenstaedt einem weltumspannenden Zufall: Ein Architekt aus Neuseeland hatte in Kenia seine Adresse bekommen. Die gab er in Kopenhagen einem Mädchen aus Irland, das nicht mehr zu ihren Eltern zurück durfte. Janine, so hieß sie, blieb mehr als ein Jahr in München.

Auch seine Frau hatte keine Kontaktschwierigkeiten: Beim Gemüsehändler lernte sie William Choe aus Singapur kennen und lud ihn zu sich ein. Er lernte bei ihnen Deutsch, dafür brachte er Michael Finkenstaedt Englisch bei – so war er Mitte der 60er der erste Volksschullehrer in Bayern, der Englisch unterrichten konnte.

Nach und nach wurde Finkenstaedts Haus durch solche Begegnungen zum Gast-Haus: „Jeder in unserer Familie hatte das Recht, Gäste für einen Abend oder auch mehrere Tage mitzubringen“, erzählt er. Und Gäste hatten die Finkenstaedts eigentlich immer. Ganz Europa war schon da, außerdem Besucher von allen Erdteilen, aus Korea, Neuseeland, den USA, Südafrika, Kenia oder Indien. Einmal standen 35 Chinesen vor der Tür, die einfach nur wissen wollten, ob es stimmt, dass Häuser in Deutschland Keller haben? „In China gibt es das nicht!“, erfuhr er dabei. Mit einem afrikanischen Gast bat er auf einem Bauernhof um ein Glas Wasser – die Bäuerin bekreuzigte sich und bat die Mutter Gottes um Beistand. „Jessas, a Schwarzer“ rief sie. Doch Finkenstaedt beruhigte sie mit der Versicherung, sein farbiger Gast sei ein guter Katholik. Ihren Durst jedenfalls durften beide stillen. Und am Ende stellte die Bäuerin fest, der Schwarze sehe ja „eigentlich ganz normal“ aus.

Solche Vorurteile half er Hunderte Mal zu überwinden, nicht nur bei Deutschen. Gut erinnert sich Finkenstaedt an die beiden Mädchen aus den USA. Die beiden saßen nur stumm und blass beim Abendessen. Als Freunde der Familie vom Tisch aufstanden, um zur Synagoge zu gehen, brachen sie ihr Schweigen. „Die gehen zur Synagoge?“, fragten sie unsicher. Die beiden Mädchen waren jüdischen Glaubens und voll ängstlicher Erwartung, wie „die Deutschen“ wohl wirklich sind. Erst die Entdeckung, dass sie auch jüdische Freunde haben, nahm ihre Anspannung. „Ein anderer Freund aus Israel“, erzählt Finkenstaedt, „hatte seinem Vater schwören müssen, nie ein deutsches Haus zu betreten“. Bei ihm machte er eine Ausnahme.

Bis heute begleitet Finkenstaedt ausländische Gäste durch die Stadt, fährt mit Besuchergruppen nach Dachau, steht Schülern in Geschichtsstunden Rede und Antwort, wie es „damals“ war in Deutschland und warum er „mitgemacht“ habe beim Krieg. „Wenn man einen Krieg angefangen hat, hat man die Pflicht, das wieder gut zu machen“, sagt er.

Seine Wiedergutmachung heißt Gastfreundschaft. Rund 1000 Gäste hat er bisher durch München geführt und zu Hause empfangen, dafür hat er zum 80sten Geburtstag die Medaille „München leuchtet“ vom Oberbürgermeister erhalten, das war vor zwei Jahren. Michael Finkenstaedt weiß, dass ihm nicht mehr viele Jahre bleiben. Doch in denen hat er nur noch einen Wunsch: „Genügend Kraft, anderen Menschen München und Bayern zu zeigen!“ Und zu sich nach Hause einzuladen. Von Gecko Wagner

Artikel vom 26.10.2006
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