Studie hat die Ursachen von Gewalt unter Münchens Schülern untersucht

München - Jeder fünfte Münchner Schüler ist Gewaltopfer

Wussten Sie, dass in München nur jedes zweite türkische Kind mindestens einmal im Jahr von deutschen Altersgenossen zum Geburtstag eingeladen wird? Das ist mehr als in Dortmund (jedes dritte), aber in Oldenburg bekommen neun von zehn türkischen Kindern entsprechende Einladungen. Spannende Zahlen hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen dieser Tage im Stadtrat vorgestellt.

Im Auftrag der Stadt hatte das Institut im Jahr 2005 insgesamt 6.000 Viertklässler und 17.000 Neuntklässlern aus elf deutschen Städten zu ihrer Lebenssituation befragt, um mehr herauszufinden über Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen.

Die wichtigsten Ergebnisse:

• Beinahe jeder fünfte Neuntklässler in München hat angegeben im Jahr 2004 Opfer einer Straftat geworden zu sein. (Raub, Erpressung, Körperverletzung und sexuelle Gewalt) – diese Zahl (18,5 Prozent) hat sich im Vergleich zur letzten Erhebung im Jahr 1998 nicht verändert.

• 19 Prozent der Münchner Kinder und Jugendlichen wachsen unter „schwierigen sozialen Rahmenbedingungen“ auf. (Niedriger Bildungsabschluss der Eltern, Sozialhilfe als Familieneinkommen, kein eigenes Zimmer). Damit befindet sich die Landeshauptstadt im Mittelfeld.

• In München besitzen 28 Prozent der Buben aus der vierten Klasse einen eigenen Fernseher, in Dortmund haben 64 Prozent eine Glotze im Kinderzimmer stehen. Das hat Auswirkungen auf die Fernsehzeit: In München schauen Jungs 1,7 Stunden pro Tag, in Dortmund 3,3 Stunden.

• Ich habe in den letzten vier Wochen ein anderes Kind geschlagen oder getreten – diese Frage mit ja beantwortet haben 13 Prozent der türkischen Kinder in München und 12 Prozent der deutschen Kinder.

• Über zwei Drittel aller Schlägereien und Straftaten bei Münchner Kindern und Jugendlichen finden zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen statt. Die Studie betitelt das lautmalerisch mit „Igor gegen Mustafa“ und „Max gegen Igor“. Weil man immer unter sich bleibe, seien die „anderen“ dann weitgehend die Fremden, mit denen man nur selten Freundschaft schließt und relativ oft tätlich aneinander gerät.

• Nur 10 Prozent der befragten Münchner sind türkischer Herkunft. Sie stellen aber 28 Prozent der Täter.

Die wichtigsten Ursachen für Jugendgewalt in den Augen der Jugendforscher:

• Relative Armut verbunden mit mangelnden Berufschancen.

• Die „Leidenserfahrung schwerer innerfamiliärer Gewalt“. Jeder zweite Münchner Befragte gab an, zuhause als Kind schon einmal Prügel kassiert zu haben. „Auffallend ist ferner, dass türkische Kinder und Jugendliche in nahezu allen Städten am häufigsten Opfer schwerer innerfamiliärer Gewalt geworden sind.“ Jedes dritte türkische Kind ist davon betroffen.

• „Eine der wichtigsten Ursachen für Jugendgewalt“ seien Jugendliche, die in einer Machokultur groß geworden sind. Gemessen hatte das Institut dies mittels vorgegebener Aussagen: Wer mehreren Sätzen wie „Einem Mann als Familienvater müssen Frau und Kinder gehorchen“ zustimmt, wird in diese „Machogruppe“ gezählt. Sie schlagen, mobben und treten 15-mal häufiger als andere. Jeder vierte türkische Jugendliche zählt sich zu der Machogruppe, bei den deutschen Jugendlichen sind es 4 Prozent.

• Und auch das Schulschwänzen „erhöht das Risiko der Jugendgewalt deutlich“, so die Studie. So gebe es bei Schulschwänzern (mindestens zehn Tage im letzten Halbjahr) im Vergleich zu „braven“ Schülern viermal so viele Gewalttäter – und in München sind 14 Prozent der Schüler solche Intensivschwänzer. „München hat deshalb durchaus Anlass, kritisch zu prüfen, ob es hier Präventionsmaßnahmen einleiten sollte“, so die Forscher. Interessant auch: Die Schwänzerquote ist in städtischen Gymnasien viel höher (17 Prozent), als in staatlichen (2 Prozent).

„Auch über die Schwänzerquote werden wir uns noch Gedanken machen“, verspricht der SPD-Bildungsstadtrat Haimo Liebich dem SamstagsBlatt. „Allerdings wollen wir da mit allen sprechen – vor allem mit den Schulen selbst, dazu hatten wir noch keine Gelegenheit.“

Die Münchner Politiker warten vor allem auf das Endergebnis der Studie, das im Herbst kommen wird. „Aber es gibt sicher jetzt schon Punkte, die wir angehen können, um Gewalt bei Kindern und Jugendlichen einzudämmen“, so Liebich. „Wir müssen die Vorbeugung weiter ausbauen, das heißt vor allem mehr Arbeit mit den Eltern und auch mit den Vätern.“ Bereits im Kindergartenalter müssten die Bemühungen beginnen, um familieninterne Probleme zu lösen und den multikulturellen Umgang zu üben. „Generell haben wir den Eindruck, dass wir in München im Vergleich zu anderen Ballungszentren recht gut dastehen. Aber das kann nicht beruhigen!“

Einen Seitenhieb auf die Schulen kann sich Liebich übrigens nicht verkneifen: „Wir waren etwas erstaunt über die zögerliche Beteiligung der Schulen an der Studie – natürlich haben die viel um die Ohren, aber ich finde es wichtig, dass sich die Schulen mit dem Gewaltproblem auseinandersetzen.“

Im Schulreferat verweist man zwar auf Maßnahmen wie Schulsozialarbeit, Nachmittagsbetreuung oder Streitschlichterprojekte. Aber Sprecherin Eva-Maria Volland gesteht ein, dass „wir unsere Kompetenzen in Sachen Gewaltlösung – und vor allem Mobbing – vielleicht noch ausbauen müssen“. Studien und Medienberichte zeigen eben manchmal auch den Experten, wie der Alltag an Schulen wirklich aussieht. „Das scheint ein Problem zu sein, das zugenommen hat“, so Volland.

Wichtig ist in ihren Augen vor allem die Fortbildung der Lehrer: „Die müssen erkennen, was wirklich los ist in der Klasse.“ Wenig Chancen räumt das Referat dagegen der verstärkten Elternarbeit ein. Die sei zwar eigentlich notwendig, aber man komme schwer an die Familien heran. „Das setzt auch immer Bereitschaft bei den Eltern voraus.“ Von Max Hägler und Nadine Nöhmaier

Artikel vom 27.04.2006
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