Atomstrom in der Diskussion

München - Und es strahlt fröhlich weiter

Obwohl Tschernobyl bereits vor zwanzig Jahren die tödlichen Gefahren von Atomkraft bewiesen hat, ist diese weiterhin ein Energielieferant erster Wahl. Vor allem, weil die herkömmlichen Energiereserven wie Kohle, Öl oder Gas in einigen Jahrzehnten erschöpft sind, falls die Menschheit weiterhin derart Strom verschwendet. Erst im Juni 2004 ist nach langem Streit der 435 Millionen Euro teure Forschungsreaktor FRM II in Garching in Betrieb gegangen.

Die Technische Universität München erforscht mit Hilfe des Reaktors vor allem den inneren Aufbau von Stoffen. Verwendet werden dazu Neutronen – also Teilchen von Atomen. Nicht nur die Beschaffenheit von Materialien wird durch die Erforschung der Neutronen sichtbar, in der Medizin kann man mit Mithilfe der Teilchen auch Stoffwechselvorgänge beobachten oder oberflächennahe Krebsgeschwüre bekämpfen. In Kernkraftwerken dagegen wird die Wärme, die bei der Spaltung von Atomen auftritt, zur Erzeugung von Dampf genutzt, der wiederum Turbinen antreibt und Strom erzeugt.

Gegner von FRM II beklagen nun, dass diese oft versprochene Krebsforschung am Reaktor FRM II ein fadenscheiniges Gutmenschen-Argument zum Betrieb des Reaktors sei. So sei diese Behandlungsweise in Großbritannien wegen zu großer Nebenwirkungen inzwischen verboten. Weitere Kritikpunkte sind das atomwaffentaugliche Uran, mit dem die Garchinger Forscher arbeiten – es könnte bei einem Terroranschlag austreten oder geraubt werden. Und während Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) den FRM II für eine „High-Tech-Jobmaschine“ hält, beklagen sich die „Bürger gegen Atomkraft Garching e.V.“ über die bürgerfeindliche Informationspolitik der zuständigen Überwachungsbehörde.

Für Quartalsberichte würden „völlig überzogene“ Preise verlangt. Gleichzeitig leite FRM II bei Flusskilometer 130,300 beständig radioaktive Abwässer und Kühlwasser in die Isar.

Ebenfalls erst vor kurzer Zeit angeschaltet wurde das tschechische Kernkraftwerk Temelin, 230 Kilometer nordöstlich von München. Am 9. Oktober 2000 begann der Testbetrieb, im vergangenen Jahr schließlich startete der Regelbetrieb. Über 70 Störungen hat Greenpeace seitdem registriert. Aber nicht nur der Umweltverband sorgt sich um die Sicherheit des sowjetischen Reaktors, der mit US-Technik aufgepeppt ist. Auch das bayerische Umweltministerium stellte im Jahr 2004 fest, dass „die Sicherheit in der Vergangenheit immer wieder Anlass zur Sorge“ gab. Zuletzt musste am 17. März der erste Block des Atomkraftwerks wegen einer Pumpenstörung vom Stromnetz genommen werden.

„Das Sicherheitsmanagement weist auch in deutschen Anlagen erhebliche Mängel auf“, sagte vor einigen Wochen der deutsche Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD). Er könnte damit auch die drei Kernkraftwerke Gundremmingen, sowie Isar 1 und 2 nahe Landshut gemeint haben. Immer wieder melden sie Störfälle – wegen Materialfehlern oder menschlichem Versagen. So berichtet die Wiener Umweltanwaltschaft von einer manuellen Schnellabschaltung des Reaktors Isar 1 am 1. April 1996.

Der Vorfall ereignete sich während einer Inbetriebnahmeprüfung an Sicherheits- und Entlastungsventilen und deutet nach Ansicht der österreichischen Institution „auf ungenügende Sicherheitseinrichtungen und mangelnde Wartung“ hin. Ungenügend ist bei dem Isar-Kraftwerk 1 wohl auch die Betonhülle, die die radioaktiven Anlagen umgibt. In einer Studie aus dem Jahr 2003 forderte der Präsident des Bundesamts für Strahlenschutz den Energiekonzern eon auf, das Atomkraftwerk vom Netz zu nehmen, weil es unzureichend gegen den Absturz eines Passagierflugzeugs gesichert sei. Die Zeit vom Umlenken eines Jets von seiner Standardflugroute bis zum Aufprall auf das Atomkraftwerk betrüge nach Ansicht von Experten 15 Sekunden. Isar 1 läuft weiter wie gehabt.

Und vielleicht noch lange. Eigentlich wurde 1998 die Restlaufzeit der deutschen Atomkraftwerke auf durchschnittlich 32 Jahre begrenzt. Aber immer wieder – vor allem seit der schwarz-roten Regierungskoalition – gibt es Forderungen, die Laufzeit weiter zu verlängern. „Die Kernenergie sollte auch weiterhin als Brücke zwischen fossilen und erneuerbaren Energien gesehen werden“, meint etwa der deutsche Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU). Nach Angaben der Experten des Umweltbundesamtes ist solch eine Brücke jedoch nicht notwendig. So sei der heutige Atomstrom bis 2020 vollständig durch erneuerbare Energieträger sowie effizienteren Energieeinsatz ersetzbar. Schon im Jahr 2010 würden Wind- und Wasserkraftwerke, Solar- und Biogasanlagen jährlich über 50 Milliarden Kilowattstunden Strom mehr als im Jahr 2000 liefern; die sechs Atomkraftwerke, die bis dahin stillgelegt sein sollen, hätten jedoch jährlich zusammen nur 33 Milliarden Kilowattstunden gebracht.

Aber trotz der Diskussionen um die Verlängerung der Kraftwerkslaufzeiten scheint die Marschrichtung in Deutschland klar: Während in China 40 Reaktoren bis zum Jahr 2020 gebaut werden sollen, forscht man bei uns, was das Zeug hält, um Atom und Erdöl zu ersetzen. Die Bundesregierung investiert etwa in den kommenden drei Jahren 155 Millionen Euro in die Entwicklung einer Auto-Brennstoffzelle.

Insgesamt sind bis 2009 zwei Milliarden Euro Forschungsmittel zugesagt, um erneuerbare Energien zu erforschen. Und auch die Wirtschaft – etwa eon – will zwischen 30 und 40 Milliarden Euro in neue Kraftwerkstechniken investieren. Von Max Hägler

Artikel vom 20.04.2006
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