Die Pilze in Bayerns Wäldern sind immer noch verstrahlt

München - 20 Jahre Tschernobyl

Es kam ganz unvermittelt. In der Nacht von 25. auf 26. April 1986 führten die Techniker im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl einige Tests durch. Das Ergebnis war nicht zufriedenstellend, die Leistung des Kraftwerks blieb niedrig. Doch es wurde weiter getestet – Instabilität hin oder her. Die automatische Notabschaltung wurde abgeschaltet – für die Techniker nur ein leidiges Hindernis. Sie überbrückten die Sicherungssysteme des Atomkraftwerks.

Innerhalb von Sekunden stieg die Leistung daraufhin unkontrollierbar an, es kam zu zwei Explosionen, die auch die Außenhaut des Atomkraftwerks zerrissen. Der Super-GAU – der größte anzunehmende Unfall war eingetreten.

Tagelang brannte die Atomanlage, schleuderte Tonnen an radioaktivem Staub in den Himmel. Insgesamt wurde 100 bis 200 mal mehr Strahlung freigesetzt, als bei den Atombombenabwürfen von Nagasaki und Hiroshima. In der zurückhaltendsten Schätzung geht die UNO von mittlerweile 10.000 Todesopfern aus, die direkt in den Tagen und Wochen nach dem Unglück den Strahlungsverletzungen erlegen sind und die in den letzten zwanzig Jahren an den Spätfolgen gestorben sind: Krebs, Mutationen, Depressionen, Herzerkrankungen – die Liste der Folgen von Tschernobyl ist lang. Es gibt auch Schätzungen, die von 250.000 Toten sprechen.

Und so wird auch heute, 20 Jahre danach, immer noch viel über Gefahren, Zahlen und Statistiken diskutiert. Denn immer noch laufen weltweit 440 Atomkraftwerke, in Deutschland sind es 17. Während besorgte Menschen darum kämpfen, dass die Atomkraftwerke möglichst bald stillgelegt werden, fordern marktpolitisch Orientierte wie CSU-Chef Edmund Stoiber oder Bundeswirtschaftsminister Michael Glos vehement, die Laufzeiten für deutsche Atomkraftwerke zu verlängern. Schließlich habe man in Deutschland die „sichersten“ Atomkraftwerke und sei angesichts des knapper werdenden Öls auch auf diese Form der Stromerzeugung angewiesen.

Stell dir vor, ein Atomkraftwerk explodiert – und keiner weiß davon. Beim Super-GAU in Tschernobyl ist genau das passiert. Nach der Explosion des vierten Reaktorblicks am 26. April 1986 um 1.23 Uhr schwebte eine radioaktive Wolke bis zu eineinhalb Kilometern hoch und bewegte sich gen Norden – zunächst Richtung Skandinavien, danach über große Landstriche Westeuropas. Am 1. Mai erreichte sie Österreich, die Schweiz – und auch München. Erst am 3. Mai informierte die sowjetische Führung die Menschheit über das wahre Ausmaß der Katastrophe, obwohl die Behörden seit Tagen Bescheid gewusst hatten.

Bis dahin waren unzählige Menschen in Tschernobyl wie in Bayern, in Polen wie in Tschechien ungeschützt der radioaktiven Strahlung ausgesetzt. Nicht nur die russische Regierung, sondern auch die deutsche Bundesregierung unter Helmut Kohl reagierte mehr schlecht als recht: „Wir haben keine genauen Informationen, aber alles im Griff“ war die Devise der Deutschen. Ein paar Tage später hieß es dann doch, dass man die Hände etwa von frischer Milch lassen solle. Viele Eltern in München wie anderswo griffen jedenfalls fortan zum Milchpulver, wer Ahnung hatte von radioaktiven Gefahren, schluckte Jodtabletten, in Spielplätzen wurde der Sand ausgetauscht, Lebensmittel wurden auf Strahlenbelastung untersucht – und gegebenenfalls in Massen vernichtet.

Kinder konnten damals nicht viel von dem begreifen, was sich abspielte – aber alle wussten, dass die Gefahr aus der Luft kommt. Bei jeder Wolke flüchteten die Kleinen in die Wohnung. Und dann hieß es noch, dass vor allem Produkte aus den Wäldern des Münchner Umlands, sowie der Bayerische Wald, die Alpen und der Pfälzer Wald „vergiftet“ seien: Hier hatte es kurz nach dem Unglück geregnet, wodurch besonders viel Strahlung in den Boden gelangt ist – und Wildfleisch, Beeren, Pilze und Honig verstrahlt wurden. Eine Belastung, die immer noch im Boden steckt: Auch heute noch werden in Bayern die Grenzwerte für diese Lebensmittel zum Teil erheblich überschritten.

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sind Waldprodukte in geringen Mengen nicht gefährlich, von „übermäßigem Verzehr“ aber raten die Experten ab. Und Kinder sowie Schwangere sollten definitiv „Waldpilze und andere Waldfrüchte aus ihrem Speiseplan streichen und stattdessen auf unbelastete Zuchtpilze zurückgreifen“. An der hohen Belastung der bayerischen Waldgebiete wird sich übrigens nach Meinung von Fachleuten auch in den kommenden Jahren nichts ändern, denn das radioaktive Cäsium-137, das im Regen enthalten war, ist erst nach rund 30 Jahren zur Hälfte zerfallen.

Aber: wie wirkte sich der Reaktorunfall überhaupt auf die Gesundheit der Bayern aus? Das ist eine Streitfrage, denn letztlich ist nicht geklärt, ob auch kleine Mengen radioaktiver Strahlung krank machen. Dass es „keine nachweisbaren Gesundheitsschäden in Deutschland“ gebe, sagt wie die Mehrzahl hiesiger Experten Herwig Paretzke, Leiter des Münchner Instituts für Strahlenschutz am GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit.

Es gibt aber auch andere Stimmen, wie etwa von Edmund Lengfelder, Strahlenbiologe an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität: Ein Indiz seien beispielsweise vermehrte Totgeburten nach Tschernobyl – gerade in Bayern seien sie messbar gestiegen, besonders in den am höchsten belasteten Gegenden. Und auch von einer Häufung von Schilddrüsenkrebs geht der Wissenschaftler aus: „Wir haben hierzu eine Untersuchung in Tschechien gemacht: Gemeinsam mit dem nationalen Krebsregister haben wir für die Zeit vor Tschernobyl und die Zeit bis 1999 die Krebsfälle ausgewertet“, erzählt er. „Dabei sehen wir einen hoch signifikanten Anstieg bei den Schilddrüsenkrebsfällen bei den Frauen: 680 Fälle zusätzlich zu jenen Fällen, die man normalerweise in der Bevölkerung erwarten würde. Diese 680 Fälle sind aufgetreten, obwohl Tschechien weniger belastet ist als Bayern oder das südliche Baden-Württemberg.“ Von Nadine Nöhmaier

Artikel vom 20.04.2006
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