Münchner Bürger schauen den Berliner Politikern auf die Finger

München - Probesitzen im Bundestag

Der Bau des Transrapid, die Privatisierung staatlicher Einrichtungen, Kinderkrippen, Umweltschutz – und so weiter, und so fort: Viele Dauerbrenner-Themen, die uns Münchner beschäftigen, werden auch und vor allem in Berlin (mit)entschieden. Um den Politikern einmal auf die Finger zu schauen, fahren pro Jahr und Wahlkreis 100 Bürger für vier Tage in die Bundeshauptstadt.

Das Samstags Blatt schloss sich der Besuchergruppe an, die vom Münchner FDP-Chef Rainer Stinner eingeladen wurde, um – zufällig in der spannenden Zeit der Regierungsbildung – hinter die Kulissen des politischen Berlins zu blicken.

Tag 1 der Ära Merkel – Tag 1 des Bildungsausflugs. Dass auch für die Akteure in Berlin noch alles neu ist, merkt die Gruppe gleich bei ihrem ersten Termin im Bundesministerium für Gesundheit. Steht dort doch noch auf allen Schildern und Broschüren die Erweiterung „soziale Sicherung“ – ein Ressort das die neue Bundesregierung ins Arbeitsministerium verlegt hat. Und auch Referent Klaus Droste entschuldigt sich: „Es ist alles noch neu im Kabinett, ich hab noch nicht alle Namen drauf.“

Dabei sind es weniger Namen für ihn geworden: 1.150 Mitarbeiter hatte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) in der vergangenen Legislaturperiode, jetzt sind es nur noch 570. Einer von ihnen Droste, der den 50 Münchner Besuchern die Probleme des deutschen Gesundheitssystems erläuterte – ein wenig beachteter, aber gravierender Punkt: knapp 400.000 Deutsche sind nicht krankenversichert.

Der nächste Morgen beginnt mit einem Highlight – mit der nur selten möglichen Besichtigung des Bundeskanzleramts. Nicht einmal Münchens FDP-Chef Stinner hatte die Machtzentrale bislang besuchen können – und schloss sich daher der Gruppe an – übrigens der ersten Besuchergruppe, seit Angela Merkel Kanzlerin ist.

Postalisch ist sie übrigens „am Spreebogen“ zu erreichen, wie viele andere im Regierungsviertel auch. Eine „absurde Sache“ für den Führer, der die Gruppe durch das Amt begleitet. „Die Spree schlängelt sich in vielen Bögen durch die Stadt – jede Ecke könnte ‚am Spreebogen’ heißen“. Im Innenhof des Kanzleramts liegt der Park, in dem oft der Regierungs-Hubschrauber mit Gerhard Schröder aufsetzte. Der Flugverkehr wird wohl abnehmen unter Angela Merkel, wohnt sie ja nicht in Hannover wie der Altkanzler, sondern schon bisher in der Bundeshauptstadt.

Das Kanzleramt selbst ist ein Staatsbau wie aus dem Bilderbuch: Viel Sichtbeton, viel Glas – alles ganz schlicht und funktional, geredet wird im Flüsterton. Und selbst im Bankettsaal rohe Wände, als Schmuck höchstens noch weiße Vorhänge. Ein ungewohnter Anblick für die Münchner, die Stoibers noble Staatskanzlei am Hofgarten als Regierungssitz vor Augen haben. Im ersten Stock dann doch noch staatstragende Kunst: Die Galerie mit den Porträts der Altkanzler, Schröder fehlt allerdings noch in der Reihe. Und es könnte durchaus noch dauern, bis sein Abbild an der Wand hängt, ist doch auch sein Vorgänger Helmut Kohl erst im neuen Jahrtausend dazugekommen.

Die neue Amtsinhaberin Angela Merkel und ihr 142,51 Quadratmeter großes Büro im 7. Stock bekamen die Münchner ebenfalls nicht zu Gesicht: Tagte doch gerade zum zweiten Mal das neue Kabinett – und einige der 470 Mitarbeiter des Kanzleramtes achteten misstrauisch darauf, dass sich keiner der Besucher im Stockwerk „verirrt“. Tag 3 unter Kanzlerin Merkel – Tag 3 des Berlinaufenthaltes. Die Gruppe nimmt im Plenum des Bundestages Platz – unter der Reichstagskuppel und vis-à-vis des Deutschen Bundesadlers, der 58 Quadratmeter groß und zweieinhalb Tonnen schwer über dem Platz des Bundestagsvorsitzenden schwebt. „Wenn er runter kracht, steht es in der Zeitung“, witzelt der Herr, der die Münchner Besucher durch den Bundestag begleitet.

1200 Leute hätten im Plenum Platz, aber oft sind nicht einmal die 614 Bundestagsabgeordneten anzutreffen. „Dass die Abgeordneten oft Sitzung schwänzen – das stimmt so nicht“, wirbt der Politiker Rainer Stinner um Verständnis. „Die Abgeordneten nehmen überwiegend nur an Sitzungen teil, die ihr Fachgebiet behandeln. Es macht keinen Sinn, wenn ein Experte für Kinderkrippen an einer Diskussion über die Entwicklung der Mineralölsteuer teilnimmt – da versteht er womöglich nur die Hälfte.“ Die Zeit sei sinnvoller genutzt, wenn man Informationsgespräche höre oder Akten studiere, die den eigenen Arbeitsbereich betreffen. Überhaupt könne niemand in sämtlichen Bereichen Experte sein: „Man muss darauf vertrauen, dass beispielsweise der Arbeitskreis Umwelt vernünftig arbeitet – und schließlich entscheidet“, sagt Stinner.

Er zeigt der Gruppe eine Kopie seines Terminplans vom Vortag: Drei Besuchergruppen begleitete er durch Berlin, er besuchte ein Info-Lunch für die parlamentarischen Mitglieder des Förderkreises Deutsches Heer, er nahm in Potsdam bei der Führung durch ein Stasi-Gefängnis teil, verbrachte einen „parlamentarischen Abend im Maritimen Forum“ und war anschließend bei der Geburtstagsfeier von Hermann Otto Solms, dem Vizepräsidenten des Bundestages. „Frau Merkel schaute auch bei der Feier vorbei“, verrät Stinner. „Das war eine freundliche Geste gegenüber unserer Partei.“

Wenn im Bundestag per Handzeichen abgestimmt wird, wird in der Regel übrigens nur geschätzt, ob sich die Mehrheit für oder gegen einen Antrag ausspricht. Ist sich der Bundestagspräsident unsicher, müssen alle Abgeordneten den Plenarsaal verlassen – und ihn anschließend wieder durch drei Türen betreten: über einer steht „Ja“, über einer zweiten „Nein“, über einer dritten „Enthaltung“. Alle anderen Türen des Plenarsaals sind währenddessen versperrt – damit keiner rausgeht und sich nochmals zum Abstimmen anstellt. Genannt wird die pragmatische Zählmethode übrigens „Hammelsprung“.

Eines der vielen Puzzleteilchen, die Politik erlebbar und verstehbar machen, wie die Münchnerin Sybille Vögele auf dem Weg zurück nach Hause urteilte: „Bei dieser Fahrt sieht man völlig andere Stationen als sonst. Man versteht, wie viel eigentlich gearbeitet wird im Parlament und ich hab jetzt Verständnis dafür, dass die Abgeordneten so oft fehlen im Bundestag.“ Von Nadine Nöhmaier

Artikel vom 01.12.2005
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