Albrecht Ackerland über Graffiti

„Da schau her“

Lange genug hat’s gedauert, bis endlich mal jemandem aufgefallen ist, wie grauslig dieses Wandprovisorium am U-Bahnhof Marienplatz eigentlich ausschaut. Haben Sie’s gesehen? Dieser Verschlag, der die Fahrgäste vor den Bauarbeitern schützen soll, und die Bauarbeiter vor den Fahrgästen, den Staub auf dem Bahnsteig vor dem Staub von der Baustelle.

Überhaupt geht es in letzter Zeit ein wenig oft um Staub in dieser Stadt: Feinstaub am Mittleren Ring, Feinstaub in den Näschen von diversen Halb-, Viertel- und Achtelprominenten. Ob das da unter dem Marienplatz jetzt ein Feinstaub ist, ein normaler Staub oder gar ein Grobstaub – keine Ahnung. Jedenfalls musste eine so genannte Staubschutzwand her. Die war weiß, wurde aber sehr schnell grau. Klar, sie ist ja eine Staubwand.

Gott sei Dank studieren trotz Wucherkapitalismus, Endzeitstimmung und allgemeinem Desinteresse doch noch ein paar Menschen Kunst. Solchen Kunststudenten ist eben dann auch aufgefallen, dass München da unten ganz und gar nicht leuchtet, sondern graut. Und dieses Grauen schaut nun wirklich nicht nach Morgen aus – sollte es aber, schließlich wird doch da unten für die WM gebaut. Wenn die im nächsten Jahr da ist, ist hoffentlich auch eine Art Morgenstimmung aufgetreten, ohne Jammern und schlechter Laune.

Besagte Staubwand wird seit letztem Montag jede Nacht ein wenig bunter. 15 Künstler dürfen Hand anlegen an jeweils hundert Quadratmetern. Zwar werden dann die Jennys und Davids und Erkans und Tamaras traurig sein, weil ihre filzstiftgekritzelten Bekundungen von der Wand verschwinden werden, jene Schüler-Bekundungen der Liebe und des Hasses, der Lust und des Frusts. Wahrscheinlich aber freuen auch sie sich über die Kunst, die da entsteht, weil die weder nach Seidenschal noch nach Prosecco riecht.

Graffiti heißt das Stichwort. Und als OB Ude bei der Vorstellung der Aktion von Münchens größter Galerie schwärmte, meinte ein teilnehmender Künstler, das sei ja eine Zwangsgalerie. Er hat’s erfasst. Genau solche Zwangsgalerien brauchen wir viel mehr. Überall dort, wo es viel zu sehr graut. Gebt München frei!

Artikel vom 02.06.2005
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