Die Polizei stempelt jugendliche Demonstranten als „Extremisten“ ab

München · Auf dem Weg zum Duckmäuserstaat

Über 500 zumeist junge Demonstranten wurden bei der Sicherheitskonferenz 2002 wegen Ordnungswidrigkeiten in Gewahrsam genommen. „Unverhältnismäßig“ kritisiert der Datenschutzbeauftragte. Fotos: clash

Über 500 zumeist junge Demonstranten wurden bei der Sicherheitskonferenz 2002 wegen Ordnungswidrigkeiten in Gewahrsam genommen. „Unverhältnismäßig“ kritisiert der Datenschutzbeauftragte. Fotos: clash

Nach den Demonstrationen bei den Münchner Sicherheitskonferenzen 2002 und 2003 (SiKo) sind bislang unbescholtene Jugendliche ab 14 Jahren mit dem Stempel „Linksextremist“ in der bayerischen Staatsschutzdatei „SDBY“ gespeichert worden. Der bayerische Datenschutzbeauftragte Reinhard Vetter kritisiert die Eintragungen als „unverhältnismäßig“ – junge Menschen könnten durch Verarbeitung und Nutzung dieser Daten „Schaden erleiden“.

Aus Angst vor Ausschreitungen während der SiKo 2002 hatte Münchens Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) am Konferenzwochenende die ganze Stadt mit einem Versammlungsverbot belegt, was viele Münchner erst recht zum Widerstand reizte: Über zehntausend Bürgerinnen und Bürger demonstrierten damals – verbotenerweise – gegen die Einschränkung des Versammlungsrechts und gegen die „Kriegstreiberkonferenz“.

Im Lauf des Wochenendes wurden damals 816 Personen in Gewahrsam genommen und 67 Personen festgenommen – „weit über“ 500 Menschen landeten mit dem Stempel „Linksextremist“ in der SDBY, obwohl sie nie zuvor polizeilich in Erscheinung getreten waren. Auch bei den Konferenz-Demos in den Folgejahren wurden entsprechende Eintragungen gemacht – wenn auch in geringerer Zahl.

„Die zum Teil noch sehr jungen Betroffenen wurden nur deswegen mit dem Motiv ‚Linksextremismus’ in der Staatsschutzdatei erfasst, weil sie an einer Demonstration teilgenommen hatten, die im Vorfeld verboten worden war“, kritisiert Vetter.

Auch Christine Stahl, Innenexpertin der Landtagsgrünen machen die massenhaften Speicherungen Angst: „Auf eine einzige Verhaltensauffälligkeit folgt permanente Kontrolle, das stellt den Rechtsstaat auf den Kopf.“ Durch solche Maßnahmen bringe man Jugendliche dazu, keine eigene Meinung mehr zu vertreten. „Das ist der Weg in den Duckmäuserstaat.“

Stefan Eibl, Vorstandsmitglied des Kreisjugendrings München, stimmt zu: „Es ist nachvollziehbar, dass Ordnungswidrigkeiten bestraft werden. Aber dass Kinder und Jugendliche nach der Teilnahme an einer Friedensdemo vom bayerischen Staat als ‚Linksextremisten’ gekennzeichnet werden, ist absurd und nicht hinnehmbar.“

Das bayerische Innenministerium bestätigte die Speicherung von Jugendlichen und bezeichnete sie als „notwendig“. „Die Wahrscheinlichkeit ist relativ hoch, dass dieser Personenkreis wieder Delikte verübt“, glaubt Sprecher Rainer Riedl.

Währenddessen gestand die Münchner Polizei erst nach mehrmaliger Nachfrage und dem Verweis auf den Datenschutzbericht ein, dass Jugendliche nach der SiKo 2002 in der SDBY gespeichert wurden, allerdings seien die Einträge inzwischen allesamt wieder gelöscht. Zuvor hatte es geheißen: „Das ist so nicht passiert.“

Eine Aussage, die bei Reinhard Vetter Kopfschütteln auslöst: „Ich verstehe diese Aussage der Polizei nicht.“ Der bayerische Datenschutzbeauftragte versicherte, dass er gerade bei den Einträgen Jugendlicher „noch mal nachschaue“, ob alles mit rechten Dingen zugehe. Leider habe das Innenministerium das Speicherkonzept in den letzten Jahren trotz entsprechender Forderungen von seiner Seite nicht entschärft. Im bayerischen Datenschutzbericht, der Anfang des Monats dem Rechtsausschuss des bayerischen Landtags vorgestellt wurde, ist laut Vetter auch die vereinzelt nicht erfolgte Löschung von polizeilichen Einträgen nach Ablauf der gesetzlichen Speicherfrist zu kritisieren.

Teilweise sei die Tilgung aus der Datenbank nicht automatisiert und gleichzeitig die notwendige Löschung per Hand unterblieben. Für die Grünen-Politikerin Christine Stahl bestätigt sich damit eine innenpolitische Weisheit: „Wer einmal in den Polizeiunterlagen drin ist, kommt nicht mehr raus.“ Von Maximilian Hägler

Was weiß der Staat über mich?

Wer herausfinden will, ob er polizeilich oder verfassungsrechtlich erfasst ist – der kann dies nur über die entsprechende Behörde herausfinden. Sprich: Wer glaubt, er steht im Visier der Polizei, der kann eine schriftliche Anfrage an das in seinem Wohnsitz zuständige Polizeipräsidium oder an das Bayerische Landeskriminalamt, Mailingerstraße 15, 80636 München stellen. „Jeder hat einen Rechtsanspruch auf eine solche Auskunft, sofern jene nicht die ordnungsgemäße Erfüllung polizeilicher Aufgaben gefährdet“, so Karlheinz Worzfeld, stellvertretender bayerischer Datenschutzbeauftrager.

Schwieriger allerdings gestalte sich eine solche Anfrage gegenüber dem Verfassungsschutz: Ihm gegenüber müsse man ein „besonderes Interesse“ an den entsprechenden Daten erklären. Und selbst dann liege es im Ermessen der Behörde, ob sie die Auskunft verweigert.

Sollte die Polizei allerdings die Anfrage nach einer angemessenen Wartezeit nicht beantworten oder gibt es nach der Auskunftserteilung durch Polizei oder Verfassungsschutz Anzeichen dafür, dass der Tatverdacht inzwischen entfallen sei, so kann man sich an den Bayerischen Datenschutzbeauftragten wenden (Prinz-Ludwig-Straße 9, 80333 München, Telefon: 089 / 21 26 72 – 0) – er wird sich des Falles annehmen und sich um das Recht des Betroffenen kümmern. nan

Artikel vom 21.04.2005
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