Lernmittelfreiheit kippt – jetzt kommt das Büchergeld

Bayerns Schüler müssen blechen

Lateinlernen geht schon noch mit einem zerschlissenen Buch, aber sind zwanzig Jahre alte Lehrmaterialien in den Fächern Physik und Sozialkunde auf dem Stand der Zeit?

Lateinlernen geht schon noch mit einem zerschlissenen Buch, aber sind zwanzig Jahre alte Lehrmaterialien in den Fächern Physik und Sozialkunde auf dem Stand der Zeit?

„Wir haben gesehen, dass es so nicht ging. Deswegen haben wir jetzt eine andere Lösung gefunden.“ Mit ungewohntem Hang zur Diplomatie hat Joachim Herrmann, CSU-Fraktionschef im bayerischen Landtag, am vergangenen Mittwoch die Kehrtwende der CSU in Sachen „Abschaffung der Lernmittelfreiheit“ als Erfolg für die CSU zu werten.

Nach heftigen Diskussionen soll an bayerischen Schulen nun ein „Büchergeld“ in Höhe von 20 bis 40 Euro eingeführt werden. Vor zehn Tagen hatte die CSU-Fraktion bei ihrer Klausurtagung beschlossen, zum kommenden Schuljahr die bisher bestehende Lernmittelfreiheit für die Schüler zu kippen. Statt wie bisher Schulbücher von den Schulen auszuleihen, hätten sich alle Familien mit Schulkindern diese selbst kaufen müssen – eine Zusatzbelastung von etwa 300 Euro pro Jahr und Kind. „Zu viel!“, „unsozial“, „ungerechtfertigt“ schallte es der CSU sofort von den bayerischen Oppositionsparteien sowie den Lehrer-, Eltern-, Schüler- und Sozialverbänden entgegen. Franz Maget, Fraktionschef der bayerischen SPD, kündigte gleich am nächsten Tag unter dem Applaus vieler Verbände und der Bevölkerung ein Volksbegehren an, das die Abschaffung der Lernmittelfreiheit verhindern sollte. Das scheint jetzt nicht mehr nötig zu sein. Nach der harschen Kritik hat sich die CSU am Mittwoch Abend einigermaßen überraschend zu einer Kurskorrektur entschieden. Zuvor hatte etwa Ruth Hübner, die Vorsitzende des Münchner Schülerbüros stellvertretend für viele andere kritisiert, dass sowieso schon „in keinem anderem Land der Bildungserfolg so dramatisch von der sozialen Herkunft abhängt wie in Deutschland. Das Ziel der Bildungspolitik muss deswegen in jedem Fall eine Entschärfung dieses Defizits sein – der Beschluss ist jedoch dafür kontraproduktiv, weil sozial ungerecht!“ Die Abschaffung der Lernmittelfreiheit sei eine Beschneidung „des Grundrechts auf Bildung“, so die empörte Münchnerin. Soweit ist der Ärger in der Opposition mittlerweile, dass Franz Maget die Ressortchefin Monika Hohlmeier (CSU) nur noch als „Noch-Kultusministerin“ bezeichnet. Neben dem Thema Büchergeld ist in den Augen der Opposition Hohlmeiers Sommer-Affäre um CSU-Ämter noch nicht ausgestanden. Nach einer Ablösung Hohlmeiers sieht es aber nicht aus. Auffällig ist immerhin, dass es jeweils der Fraktionsvorsitzende Herrmann war, der sowohl die geplante Abschaffung der Lernmittelfreiheit verkündet hatte, als auch eine Woche später die Kurskorrektur erklärte. Das neue Modell sieht nun vor, dass jeder bayerische Schüler sich die Bücher auch in Zukunft von seiner Schule leiht. Allerdings gegen Entgelt: Im Gespräch sind 20 Euro für Grundschüler und 40 Euro für alle weiterführenden Schulen. Die Bücher bleiben im Besitz der Schule, sollen aber künftig in der Regel nach vier und nicht wie bisher, nach zehn Jahren ausgetauscht werden. Einkommensschwache Familien oder solche mit vielen Kindern müssten das Büchergeld nicht zahlen. Außerdem verkündete Hohlmeier am Mittwoch Abend, dass „in Zukunft auch die Eltern im Schulforum mit darüber beraten sollen, was für Bücher angeschafft werden sollen.“ Das sei, so die Ministerin, eine „ziemlich weitreichende Änderung für die Eltern.“ Die Elternverbände hatten der Ministerin noch am Mittwoch Nachmittag diese Zusage abgerungen. Am Donnerstag verkündete dann die Vorsitzende des Bayerischen Elternverbandes, Ursula Walther, dass das „Büchergeld eine Kröte ist, die wir aber mit Sicherheit nicht vom Tisch bekommen“. Die Schulen selbst hielten sich dagegen äußerst bedeckt: Viele Direktoren von Münchner Schulen wollten sich auf Anfrage entweder gar nicht oder nur sehr vorsichtig zum Thema äußern. Ein Schulleiter, der nicht genannt werden wollte, bewertete die gefundene Lösung positiv: „Schließlich können wir jetzt öfter neue Bücher kaufen. Die sehen dann nicht nur besser aus, sondern sind auch aktueller.“ Fast schon euphorisch zeigte sich Franz Maget angesichts des CSU-Rückziehers. In der eigens einberufenen aktuellen Stunde im Landtag am Donnerstag erklärte der Oppositionschef, dass „dies das beste Volksbegehren war, das es in Bayern je gab“: Man habe über die CSU gesiegt, bevor der Kampf überhaupt losgegangen sei. „Das ist ein Sieg für alle, die sich an unserer Seite an einem Volksbegehren beteiligen wollten“, so Maget. Bildung dürfe niemals „von der Herkunft oder dem sozialen Stand der Eltern“ abhängig sein. De facto ist jedoch auch das „Büchergeld“ ein erster Schritt zur Abschaffung der Lernmittelfreiheit: Die Staatsregierung spart einen großen Teil der benötigten Gelder für die Anschaffung der Bücher und der jetzt in den Raum gestellte Betrag kann jederzeit bei Bedarf angehoben werden. Ob der Volksentscheid trotzdem noch kommt, ist fraglich. „Wir sind auch gegen das Büchergeld, deswegen bereiten wir das erst einmal weiter vor“, so Maget. Einige Verbände haben die Unterstützung dafür aber bereits aufgekündigt.

Artikel vom 30.09.2004
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