Ernste Wiesn – Der neunte Tag

Luca Cherubino – Ackerlands Wiesn

Wundern Sie sich nicht, lieber Leser, wenn an dieser Stelle heute ausnahmsweise keine Weisheiten von unserem Freund Albrechts Ackerland zu lesen sind. Der Ackerland schläft. Fragen’S mich jetzt bitte nicht wo oder mit wem, das weiß ich nämlich selbst nicht.

Ich war zwar gestern Abend mit ihm auf ein paar legale Stehbier im Hofbräu-Zelt, doch irgendwann ist der Ackerland verschwunden. Eben hatte er mir noch etwas total unverständliches von wegen „rote Rüscherl, Neuseeland, aber Frau Meier heißt die nicht“ ins Ohr gelallt, dann war er plötzlich weg. Heute morgen um kurz vor elf bekam ich aber folgende SMS: „Was ist gestern noch passiert? Kann nicht aufstehen. Fühle mich elend. Kannst den Termin alleine erledigen? Danke. Brechtl.“ Ich war schon kurz vor dem Eingang zur Theresienwiese, habe ein bisschen geflucht, und bin eben alleine auf den Termin gegangen. Geschäft ist schließlich Geschäft. Sie müssen wissen: Ich bin Fotograf, und bin öfters mit dem Ackerland gemeinsam auf Terminen. Unsere Aufgaben sind klar umrissen: Der Ackerland beobachtet, fragt und schreibt, und ich mache Fotos. Normalerweise. Nur heute eben nicht. „Muss ich das eben alleine machen, porca puttana!“, dachte ich. Nicht, dass mir das an sich etwas aus machen würde, aber gerade heute war mir das gar nicht recht. Schon zu Hause hatte mich beim Gedanken an diese Geschichte ein Schaudern überkommen: Heute vor genau 24 Jahren sprengte der Neonazi Gundolf Köhler sich und zwölf unschuldige Wiesnbesucher völlig grundlos in die Luft. Mehr als 200 Menschen wurden bei dem Attentat schwer verletzt. Das, was eigentlich ein friedliches Fest für Münchner und ihrer Gäste aus aller Welt sein sollte, war Schauplatz eines der sinnlosesten und grausamsten Terroranschläge der Bundesrepublik. Am Gedenkstein für die Opfer des Attentats hatte sich mittlerweile die halbe Münchner Stadtspitze formiert, es wurden ein paar Worte über die Sinnlosigkeit von Terrorattacken gesagt, die Nazi-Täter verbal verurteilt, und schließlich wurde ein Kranz mit Stadtschleife niedergelegt. Ich machte mit nicht nur wegen der Kälte zitternden Fingern pflichtschuldig meine Fotos, verfluchte innerlich alle Neonazis, Selbstmordattentäter und sonstige Terroristen, und beobachtete schließlich, wie der Strom an Dirndln- und Jankertragenden Menschen unentwegt ins Wiesngelände strömte. Einen Moment lang wollte ich ihnen hinterher brüllen: „Heute gibt’s nichts zum Feiern! Kommt her und gedenkt der Opfer!“ Ich tat es nicht. Stattdessen dachte ich „Das Leben geht weiter“, und bin einen Glühwein trinken gegangen. Auf der Wiesn.

Artikel vom 26.09.2004
Auf Facebook teilen / empfehlen Whatsapp

Weiterlesen





Wochenanzeiger München
 
Kleinanzeigen München
 
Zeitungen online lesen
z. B. Samstagsblatt, Münchener Nord-Rundschau, Schwabinger-Seiten, Südost-Kurier, Moosacher Anzeiger, TSV 1860, ...