Europa – morgen haben die Münchner die Wahl

Der unbekannte EU-Abgeordnete

Morgen wählen die Münchner ein unbekanntes Wesen: den Europaabgeordneten. Obwohl er wichtige Entscheidungen trifft, wissen nur wenige Menschen über ihn Bescheid. Für seine Arbeit, die Europapolitik, interessieren sich gerade mal ein Drittel der Deutschen.

Zum Vergleich: An Politik allgemein hat gut die Hälfte der Bürger Interesse. Ein Grund für die Gleichgültigkeit gegenüber den morgigen Wahlen zum Europaparlament dürfte ein Missverständnis sein: Viele halten die Straßburger Versammlung für eine belanglose politische Spielwiese. Doch dem ist schon lange nicht mehr so! Das SamstagsBlatt ist einigen Fragen über die Europäische Union nachgegangen – damit das Wesen Europaabgeordneter nicht ganz so unbekannt bleibt.

Wer wählt morgen wen? 342 Millionen Wählerinnen und Wähler aus den 25 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union stimmen morgen über das zweitgrößte Parlament der Welt ab. Dabei dürfen die deutschen Wahlbürger über 99 der 732 Straßburger Sitze entscheiden. In München sind rund 836.000 Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen. Wobei die Wahl wahrlich europäisch ist: Die Zahl umfasst über 6000 EU-Bürger ohne deutschen Pass, die ihr Wahlrecht in München wahrnehmen wollen.

Die beiden großen Parteien schicken für München erfahrene Europaabgeordnete ins Rennen: Bernd Posselt (CSU) und Wolfgang Kreissl-Dörfler (SPD). Die Grünen setzen auf Michael Bärmann als Spitzenkandidaten, FDP und PDS werben nicht mit lokalen Gesichtern. Das Wahlrecht verlangt das auch gar nicht von ihnen: Die Münchner haben morgen nur eine Stimme, mit der sie keine Person, sondern eine bayern- bzw. deutschlandweite Parteiliste ankreuzen können. Die Abgeordneten werden auf fünf Jahre gewählt.

Um welche Themen geht es? Europawahlen erregten selten die Gemüter. Doch diesmal plätscherte der Wahlkampf besonders müde vor sich hin – auch hier in der Stadt. Die Münchner SPD stellt neben der „Friedenspolitik“ die Trinkwasserversorgung in den Vordergrund. Auf keinen Fall dürfe es hier eine europäische Zwangsprivatisierung geben, damit die Qualität des Münchner Wassers nicht gefährdet werde.

Die Grünen sehen das genauso. In ihrer Kampagne setzen sie außerdem auf europäischen Umwelt- und Verbraucherschutz. Sie möchten klare Kennzeichnungen von genveränderten Produkten und lehnen zu weitreichende Softwarepatente ab. Die CSU betont zudem ihre bayerische Verwurzelung, verlangt europäische Sparsamkeit und einen Gottesbezug in der zukünftigen EU-Verfassung. Darüber hinaus versucht sie, mit dem möglichen EU-Beitritt der Türkei Stimmung zu machen. Diesen lehnt die CSU strikt ab. Unerwähnt bleibt freilich, dass es zunächst nur um Verhandlungen mit der Türkei geht, wie sie ihr seit Jahrzehnten in Aussicht gestellt wurden. Die jetzt zu wählenden Straßburger Abgeordneten können über einen Beitritt der Türkei gar nicht beschließen – diese Frage stünde nämlich frühestens in zehn bis fünfzehn Jahren auf der Tagesordnung.

Die FDP will ein „Europa der Bürger, ein Europa des Marktes und ein Europa der Stabilität“ und fordert eine Volksabstimmung in Deutschland über die zukünftige EU-Verfassung. Die PDS lehnt die diskutierte Verfassung als einzige bedeutende Partei ab. Neben der Europapolitik spielte die Bundespolitik eine entscheidende Rolle im Wahlkampf. Die Union und die Liberalen möchten die Wahl auch als ein Signal gegen Rot-Grün in Berlin verstanden wissen.

Was bedeutet Europa für München? Jede Stimme stärke die europäische Demokratie und die Berechtigung des Parlaments. Außerdem betonen die Beamten von Oberbürgermeister Christian Ude die Bedeutung der Straßburger Abgeordneten: „Die Entscheidungen des Europäischen Parlaments wirken sich auf das Leben aller Bürgerinnen und Bürger aus.“ Dem stehen die Kandidaten in nichts nach. Sie unterstreichen, dass es sich als Münchner lohnt, an der Gestaltung Europas mitzuwirken: München sei „jetzt nicht mehr der Rand des organisierten Europas, sondern sein Herz und davon werden wir sehr profitieren in Sachen Messe, Industrie und Verkehrsknotenpunkt, aber auch kulturell und sicherheitspolitisch“, erklärt Bernd Posselt (CSU) dem SamstagsBlatt. Auch sein Straßburger SPD-Kollege Wolfgang Kreissl-Dörfler zeigt sich europabegeistert: „Gerade wir Bayern brauchen auch in Zukunft eher ein Mehr an Europa, um davon wie bisher schon zu profitieren – nicht nur bei den Exporten und im Tourismus.“

Was kann das Europaparlament entscheiden? Viele halten die Volksvertreter, die in Straßburg tagen, für machtlos. Doch seitdem sie 1979 erstmals direkt gewählt worden sind, haben sie stetig neue Kompetenzen erhalten. Anders als in den Nationalstaaten entscheidet die Parlamentswahl freilich nicht gleichzeitig über eine neue Regierung.

Wenn die parlamentarische Macht beziffert werden soll, machen viele Zahlen die Runde – Europarecht ist eben eine komplizierte Materie. Der Münchner Europaabgeordnete Bernd Posselt nennt einen Richtwert: Rund zwei Drittel aller unserer Gesetze würden durch EU-Regelungen bestimmt oder beeinflusst. Und bei wiederum zwei Dritteln dieser EU-Gesetze entscheide das Parlament mit. Da geht es beispielsweise um Außenhandel, Marktfreiheit, Strukturförderung, Verbraucher- und Umweltschutz, Genfood und Trinkwasserprivatisierung.

Aber auch die unverschlüsselte Übertragung wichtiger Sportereignisse im Fernsehen hat das Europaparlament durchgesetzt. Außerdem beschließt die Straßburger Versammlung über einen Teil des EU-Haushalts.

Aber es gibt auch Schwachpunkte: Das Parlament kann weder in der so bedeutsamen, weil milliardenschweren Agrarpolitik mitbestimmen, noch kann es verbindliche Entscheidungen zur Außen- und Sicherheitspolitik, oder zur Innen- und Justizpolitik treffen. Hier würde erst die neue Verfassung mehr Rechte bringen. Ein weiteres großes Manko: In keinem Politikbereich darf das Parlament eigene Gesetzesinitiativen starten – das ist der Kommission vorbehalten. Dafür hat das Parlament bereits jetzt wichtige Kontrollmöglichkeiten: Es überwacht die Arbeit der Kommission und der dahinter stehenden Bürokratie.

Ist Europa nicht mehr als das Parlament? Morgen steht das Europäische Parlament im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Daneben gibt es im europäischen Alltag noch einige andere Machtzentren. Neben dem Parlament sind drei Einrichtungen von besonderer Bedeutung: Zum einen die Kommission, an deren Spitze noch bis November Präsident Romano Prodi steht. Sie ist in vielen Punkten einer Regierung ähnlich, wacht über den Wettbewerb und den Euro-Stabilitätspakt und treibt die Europapolitik voran – zum Beispiel mit ihrem Monopol auf Gesetzesinitiativen. Der Ministerrat beschließt (meist zusammen mit dem Parlament) die Gesetze. Ohne diesem hinter verschlossenen Türen tagenden Gremium geht also nichts. Die Staaten sind mit ihrem je nach Politikbereich zuständigen Fachminister vertreten. Im Ministerrat werden die Personalpolitik ausgeklüngelt und die Machtkämpfe der nationalen Regierungen ausgetragen. Und der Gerichtshof wacht seit Jahren zuverlässig über die Einhaltung der Verträge und den Schutz der Grundrechte aller EU-Europäerinnen und -Europäer. Von Jonas Paul

Artikel vom 10.06.2004
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