Weitreichende Änderungen an bayerischen Gymnasien

Nur noch Grundwissen

Acht Jahre Gymnasium bedeutet für viele Schüler: Noch weniger Freizeit, noch mehr Lernen.	Foto: ots/Cornelsen

Acht Jahre Gymnasium bedeutet für viele Schüler: Noch weniger Freizeit, noch mehr Lernen. Foto: ots/Cornelsen

Julia jubelte am Freitag Morgen vergangener Woche. Wenig später war die ganze Klasse in Aufruhr. Julia ist Schülerin der 10. Klasse eines Münchner Gymnasiums. Wie ihre Mitschüler hatte sie beim Frühstück die Nachricht im Radio gehört: „Nie wieder sitzen bleiben!“ Den ganzen Vormittag phantasierten die Jugendlichen dann, wie rosig die Schulzukunft nun würde, lernen bräuchten sie ja jetzt nicht mehr.

Die Meldung war tatsächlich kein arg verspäteter Aprilscherz, doch der Schülerjubel war trotzdem nur teilweise berechtigt.

Das bayerische Kultusministerium (KM) hat letzte Woche einen Entwurf zur Änderung der Schulordnung für bayerische Gymnasien veröffentlicht. Dieser enthält Änderungen bei den vorgeschriebenen Leistungsnachweisen, so könnten künftig an Stelle von Schulaufgaben bei Fremdsprachen auch mündliche Partner- und Gruppenprüfungen treten. Gestrichen wurde die bisher verpflichtende „große Hausarbeit“ im Fach Deutsch in der 11. Jahrgangsstufe.

Viele Lehrer hätten sie als ungerecht empfunden, so das Ministerium in seiner Mitteilung, „weil nicht zu kontrollieren war, wer letztendlich die Arbeit geschrieben hat und der Einfluss des Internets immer größer geworden ist“.

Auch die kleine Sensation, die Julia und wahrscheinlich alle bayerischen Schüler so entzückte, ist Bestandteil des KM-Plans: Es wird von „neuen Möglichkeiten des Vorrückens“ gesprochen. Das klingt nach Lernen ohne Leistungsdruck, bedeutet „aber nicht, dass das Sitzenbleiben in Bayern abgeschafft werden soll“. Thomas Gottfried, Sprecher des bayerischen Kultusministeriums, erklärt die Beweggründe: „Manche kennen es aus eigener Erfahrung. In manchen Lebenssituationen lässt es sich einfach schwerer lernen, und manche erreichen dann das Klassenziel nicht.

Diesen oft aus persönlichen Gründen gehinderten Schülern wollen wir eine Chance geben.“ So sollen diese Schüler auf Probe vorrücken dürfen, wenn die Lehrerkonferenz der Meinung ist, dass die schulischen Mängel bis zu den Herbstferien behoben sein können. Zudem dürfe ein Schüler weiterhin nicht in zwei Kernfächern eine „5“ im Zeugnis stehen haben.

Gottfried zu dieser berühmt-berüchtigten Leistungsgrenze: „Hat etwa ein Schüler in den Fächern Latein und Erdkunde eine 5, kann er auf Probe vorrücken. Wiederholen muss er bei einer 5 in Latein und einer 5 in Mathe“. Durch diese Regelungen sollen Schüler und Lehrer mehr Freiraum zum pädagogischen Arbeiten bekommen, hofft das Kultusministerium.

Zustimmung findet der Entwurf nicht nur bei den Schülern, auch von Seiten der Lehrer kommt positives Echo. „Wir haben schon lange gesagt, dass die Praxis des Sitzenbleibens in Bayern Unsinn ist“, erkennt etwa Wolfram Bundesmann, Geschäftsführer der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft in Bayern (GEW). Gute Noten also für das Kultusministerium, zumindest in dieser Frage.

Vollkommen schlechte Zensuren allerdings bekommt Ministerin Monika Hohlmeier und Regierungschef Edmund Stoiber (beide CSU) für die Verkürzung des Gymnasiums (G8) auf acht Jahre ab kommenden Schuljahr. Der Gewerkschafter Bundesmann gibt sich ungehalten: „Die Art der Einführung ist eine Katastrophe. Den betroffenen Schulen und ihren Lehrern bleibt kaum Zeit zur Vorbereitung. Das geht alles zu Lasten der Schüler! Da ist vollkommen über die Köpfe der Betroffenen hinweg entschieden worden.“ Zwar sei es für ihn denkbar, neun Jahre Gymnasium auch in acht zu schaffen, doch das bedinge eine viel längere und intensivere Planung. Viel lieber sähe es die Gewerkschaft, wenn „von unten verkürzt“ würde: „Die Schüler sollten so lange wie möglich zusammen bleiben.“ Auch Stefan Eibl, Vorstand des Münchner Schülerbüros (MSB) findet die Umsetzung des G8 „desolat und übers Knie gebrochen“.

Das Kultusministerium hingegen lobt mit einer gerade erschienenen Broschüre für die Eltern der betroffenen Schüler die Reform. Ministerin Hohlmeier weist darin auf die besonderen Qualitätsmerkmale des G8 hin: „Konzentration auf den nachhaltigen Erwerb von grundlegendem Wissen und wichtigen Kernkompetenzen, Verbesserung der Vorbereitung auf Studium und Beruf.“ Es werde keinen stärkeren Stoffdruck geben, die Lehrpläne würden angepasst und auf das Basiswissen konzentriert, versichert das Blatt.

Eibl schüttelt bei diesen Argumenten den Kopf, nur eine Neuerung findet er gut: „Das Fach „Natur und Technik“ geht in die richtige Richtung. Endlich werden einmal Inhalte vernetzt.“ Dieses Fach wurde bereits im laufenden Schuljahr des noch neunjährigen Gymnasiums in der 5. Klasse eingeführt. Zukünftig sind dafür insgesamt neun Wochenstunden für die Klassen 5 bis 7 vorgesehen. Ziel von „Natur und Technik“ ist, das Interesse der Schüler für die Phänomene der Natur anzuregen und frühzeitig heranzuführen an die Inhalte späterer Fächer wie Biologie, Chemie und Physik.

Auch die Landesschülervertretung (LSV) Bayern beklagt, dass die Schüler kaum Mitspracherecht an der Entscheidung und Entwicklung des G8 hatten. Zu dem dafür wichtigen Kongress „Segel setzen“ wurden weder die gewählten Bezirksschülersprecher noch Vertreter der LSV eingeladen. „Ohne die Mitsprache der größten betroffenen Gruppe, der Schüler, wird das G8-Schiff sehr schnell kentern“, orakelte LSV-Sprecher Lukas Hellbrügge. Vermutlich habe Monika Hohlmeier Kritik befürchtet, so der Schülervertreter.

Trotz der vielfachen Kritik wird das G8 ab dem kommenden Schuljahr für alle 5. und 6. Jahrgangsstufen eingeführt, zumindest an den staatlich Schulen. Zwar ist den privaten, kirchlichen und kommunalen Gymnasien eine verlängerte Zeit zum Start eingeräumt, doch die meisten davon steigen schon jetzt mit ein. So auch die 14 städtischen Gymnasien. „Wir sagen, wenn der Staat Vorgaben macht, ziehen wir mit. Zögerten wir die Einführung hinaus, ginge das zu Lasten der Schüler. Allerdings gehen wir den Münchner Weg“, erklärt Eva-Maria Volland, Sprecherin des Münchner Schulreferats.

„Wir wollen die Einführung mit Ganztagsangeboten verbinden“, so Volland. An fünf Gymnasien würden Tagesheime eingerichtet, an zweien pädagogische Nachmittagsbetreuung, und am Elsa-Brändström-Gymnasium werde sogar auf einen „rhythmisierten Ganztagsunterricht“ umgestellt: „Die Entspannungs- und Lernphasen werden dort auf den ganzen Tag verteilt“, berichtet Volland.

Kein Modell für Julia. Die Zehntklässlerin hat schon genug von ihren vier Nachmittagsstunden. „Den ganzen Tag in der Schule sitzen? Also bitte, wo würde dann mein soziales Leben bleiben?“, fragt sie sich. Ohnehin sei sie froh darüber, noch drei Jahre bis zum Abitur zu haben. Und die Freude über das erleichterte Vorrücken kommt bei ihr mehr des Prinzips wegen: „Ich hatte noch nie einen Fünfer“, erzählt sie grinsend, steigt auf ihr Fahrrad und fährt nach Hause. Pünktlich um zwanzig nach Eins. Von Albrecht Ackerland

Artikel vom 13.05.2004
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