27.000 gehen auf die Straße, um gegen Kürzungen zu demonstrieren

Rentnerrevolte in München

Immer brav an der Markierung, aber deutlich hörbar zogen die Senioren durch Münchens Innenstadt.	Foto: Wieser/vdk

Immer brav an der Markierung, aber deutlich hörbar zogen die Senioren durch Münchens Innenstadt. Foto: Wieser/vdk

Anneliese Fischer ist ein wenig aufgeregt. Die elegante 77-jährige Frau sitzt im eigens eingerichteten Pressebüro und wartet auf die neuesten Zahlen: „Ich bin gespannt. Schließlich haben wir seit 20 Jahren keine Demonstration mehr organisiert.“ Fischer ist die stellvertretende Landesvorsitzende des „Sozialverbandes VdK“, war die erste bayerische Landtagsvizepräsidentin und organisiert gerade einen Protest, wie ihn die Landeshauptstadt noch nicht gesehen hat.

Und das hat seinen Grund: „Wir sind ein sehr konstruktiver Verband, aber jetzt ging es einfach nicht mehr weiter. Diese Demonstration war absolut überfällig“. Gemeint ist die erste große Rentnerdemo in Bayern überhaupt, die am vergangenen Montag stattgefunden hat.

Der VdK hatte alle seine knapp 500.000 Mitglieder in Bayern aufgerufen, nach München zu kommen, um gemeinsam „gegen Sozialabbau und Rentenklau“ zu demonstrieren. Der Anlass: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik sind in diesem Jahr die Renten gekürzt worden. Seit dem 1. April haben die gut 19 Millionen Rentner in Deutschland weniger Geld in der Tasche. Die im Juli fällige Rentenerhöhung fiel Hans Eichels Spardiktat zum Opfer, seit Jahresanfang ist – auch für Senioren – die Praxisgebühr und die erhöhte Medikamentenzuzahlung fällig.

Dazu wird seit dem 1. April von den Betriebsrenten auch noch der Krankenkassenbeitrag abgezogen und künftig ist der volle Pflegeversicherungsbeitrag zu zahlen. Und es kommt noch dicker für die Senioren, die oft 40 Jahre lang gearbeitet haben: Ab 1. Januar 2005 sind 50 Prozent des Rentenbetrags steuerpflichtig, noch streiten sich die Parteien allerdings über den genauen Besteuerungssatz. Außerdem müssen sich die Rentner darauf einstellen, dass ihr Einkommen künftig nicht mehr der Inflation angepasst wird.

Schon jetzt fehlen vielen 30 bis 40 Euro im Monat, künftig wird der Geldbeutel noch leerer.

Anneliese Fischer erklärt, wieso 30 Euro weniger Rente die Bezieher schmerzt: „Durchschnittlich bekommt ein Mann in Deutschland um die 900 Euro Rente, Frauen sogar weniger als 500 Euro. Da sind 30 Euro keine Peanuts mehr.“ Dabei sieht auch sie ein, dass es ohne große Sozialreformen nicht mehr geht in Deutschland. Allerdings: „Wir wollten verhandeln, aber die Regierung hat nicht auf uns gehört. Jetzt wehren wir uns.“ Tatsächlich sind gut 27.000 Rentner aus ganz Bayern dem Aufruf des Sozialverbandes gefolgt und haben sich um 11 Uhr auf der Theresienwiese versammelt. Einige sind bereits früh morgens in den Bus gestiegen und nach München gefahren, zum Demonstrieren. Für viele das erste Mal. „Bisher dachte ich immer, dass nur linke Spinner auf die Straße gehen, aber das ist jetzt etwas anderes, das ist notwendig“, erklärt Heinz Ruppert aus Cham.

Der 74-Jährige hat, um sich vor der freundlichen Frühlingssonne zu schützen, ein weißes Käppi mit blauem VdK-Schriftzug auf den Kopf gesetzt und sagt das, was viele Demonstranten denken: „Ich habe über fünfzig Jahre gearbeitet, habe Steuern bezahlt, habe dieses Land wieder aufgebaut, und jetzt gönnt man mir nicht einmal mehr einen ruhigen Lebensabend.“ Und ein Mann neben ihm ergänzt: „Die Politiker sind alle gleich dumm. Die sollten mal probieren, mit 500 Euro im Monat zu leben, die Schweine!“

Mit dem Lebensalter kommt auch die Erfahrung: Die weiß geschopften Demonstranten halten Schilder, auf denen steht „Wir sind nicht die Melkkühe der Nation“ oder „Reformdschungel – holt uns hier raus!“ Einige haben Trillerpfeifen im Mund, andere skandieren mit etwas brüchigen Stimmen: „Wir protestieren!“ oder „Wir haben lange genug geschwiegen!“

Mittags kommen die ersten Demonstranten am Odeonsplatz an, wo die Abschlusskundgebung stattfinden wird. Schon bald ist der Platz zum Brechen voll, bis weit in die Ludwigsstraße drängeln sich ältere Menschen. 20.000 Protestler hatte der VdK erwartet – bundesweit. Jetzt sind es alleine in München 27.000, dazu kommen noch etwa 5.000 in Hamburg, und etwa 3.000 in Bremen, Stuttgart und Saarbrücken.

Anneliese Fischer, die stellvertretende Landesvorsitzende aus Bayreuth, begrüßt die bunte Protestgruppe: Stolz sei sie, dass so viele gekommen seien. Allerdings vergisst sie auch nicht zu erwähnen, dass „wir hier auch für alle stehen, die nicht kommen konnten, weil sie gebrechlich sind, oder weil es ihnen noch schlechter geht als uns“. Die Rede wird von der Menschenmasse auf dem Odeonsplatz bejubelt. Mit fester Stimme ruft sie ins Mikrofon: „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.“

Auch Gerhard Bernkopf, Vorsitzender des Verbandes, spricht den Leuten aus der Seele: „Die Politiker ziehen dem kleinen Mann das Geld aus der Tasche. Das ist die Wahrheit. Basta!“ Auch ihm wird zugejubelt. Erst als er Ulla Schmidt und Horst Seehofer beim Namen nennt, wird der Odeonsplatz von einem Pfeifkonzert überschallt. Am Ende appelliert Bernkopf an die Politiker: „Vergesst nie: 25 Millionen Rentner, chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung, sind auch 25 Millionen Wähler.“ Von Filippo Cataldo

Artikel vom 03.04.2004
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