Die individuellen Gedenken auf Augenhöhe in München

Ludwigsvorstadt/Isarvorstadt/Maxvorstadt · Zeichen der Erinnerung

Initiator für das Erinnerungszeichen an Franz Wipplinger, Friedbert Mühldorfer von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – BdA. Foto: Tom Hauzenberger

Initiator für das Erinnerungszeichen an Franz Wipplinger, Friedbert Mühldorfer von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – BdA. Foto: Tom Hauzenberger

Ludwigsvorstadt/Isarvorstadt/Maxvorstadt · Bereits vergangene Woche, am Dienstag, 4. Oktober, wurde ein Erinnerungszeichen für Franz Wipplinger an die Öffentlichkeit übergeben. Zu seinen Ehren fand im Schulhof der Grundschule Tumblingerstraße eine Gedenkveranstaltung statt, im Anschluss wurde an seinem ehemaligen Wohnort in der Maistraße 31 das Erinnerungszeichen angebracht.

Franz Wipplinger kam 1915 in München zur Welt und wuchs in der Maistraße 31 auf. Er war nicht Mitglied der Hitlerjugend, sondern gehörte einer katholischen Jugendgruppe an. Nach dem Gymnasium trat er in das Priesterseminar in Freising ein und studierte Philosophie und Theologie. Im September 1939 wurde Franz Wipplinger zur Wehrmacht einberufen. Nach einer schweren Verwundung an der Ostfront wurde er ab Dezember 1942 als Schreiber beim Heer in München eingesetzt. In Briefen äußerte er sich erschüttert über den Krieg, in sein Tagebuch schrieb er im August 1943: „Hitler wird [...] nicht mehr verhindern können, daß trotz aller Stumpfheit, Massenpsychose und Furchtsamkeit der Deutschen das geknechtete Gewissen sich rührt und Sorge, Vernunft und radikale Ablehnung lauter und lauter werden.“ Seine Tagebucheinträge lassen vermuten, dass er Flugblätter der "Weißen Rose" gekannt hat. Franz Wipplinger wurde denunziert und im Dezember 1943 inhaftiert. Das Militärgericht warf ihm zudem vor, „Feindsender“ gehört und staatsfeindliche Flugblätter besessen zu haben. Wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ verurteilte ihn das Feld-Kriegsgericht des Zentralgerichts des Heeres Berlin am 31. August 1944 zum Tode. Franz Wipplinger wurde am 24. Oktober 1944 im Gefängnis Berlin-Spandau hingerichtet. Auf Initiative von Friedbert Mühldorfer von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – BdA wurde nun für Franz Wipplinger ein Erinnerungszeichen installiert.

Am Mittwoch, 12. Oktober, folgt gleich ein weiteres Erinnerungszeichen für Dr. Felix Samson Perutz (1875 – 1937), was von Stadtrat Alexander Reissl in Vertretung des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt München an die Öffentlichkeit ebenfalls übergeben wird. Der Arzt hatte sich in München mit großem Einsatz ehrenamtlich engagiert, etwa in der Betreuung von Waisenkindern. Durch die nationalsozialistischen Rassegesetze wurde er aus der Gesellschaft ausgeschlossen. 1937 nahm er sich das Leben. Zu seinen Ehren findet am 12. Oktober um 15 Uhr, in der Hochschule für Philosophie München eine Gedenkveranstaltung statt. Anschließend wird an seinem ehemaligen Wohnort in der Königinstraße 69 das Erinnerungszeichen angebracht.

Felix Samson Perutz kam 1875 in der Nähe von Rosenheim zur Welt. Er ging auf das Münchner Wilhelmsgymnasium und studierte Medizin. Ab 1899 war er in Berlin und Worms als Arzt tätig. 1896 konvertierte er von der jüdischen zur evangelischen Religionsgemeinschaft. 1902 heiratete er die Protestantin Helene Schöttle, das Ehepaar lebte in München und bekam einen Sohn und zwei Töchter. Für seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg als Arzt wurde Perutz mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse geehrt.

Dr. Felix Samson Perutz hatte eine Praxis in der Sonnenstraße 12, im Jahr 1923 wurde er zum Sanitätsrat ernannt. Er nahm verschiedene Ehrenämter wahr, so die ärztliche Betreuung der Kinder im Evangelischen Waisenhaus in der Kaulbachstraße. Außerdem war er Gründungsmitglied und von 1921 bis 1924 Vorsitzender des „Bayerischen Landesverbandes gegen den Alkoholismus“. Nach dem Tod seiner Ehefrau 1933 wohnte Dr. Felix Samson Perutz in dem Haus in der Königinstraße 69, das ihm gehörte. Nach dem Erlass der „Nürnberger Rassegesetze“ 1935 galt der Protestant aufgrund seiner jüdischen Herkunft als Jude. Die Nationalsozialisten unterwarfen ihn ihrer antisemitischen und rassistischen Gesetzgebung. Tief erschüttert von seinem Ausschluss aus seinem bisherigen Lebensumfeld und aus der Münchner Gesellschaft beging Dr. Felix Samson Perutz am 11. November 1937 Suizid.

Gegen das Vergessen

Etwa 10.000 Frauen, Männer und Kinder verloren während der NS-Diktatur in München ihr Leben. An diese Menschen werden auf Antrag an ihren einstigen Lebensmittelpunkten Erinnerungszeichen, seit 2017, in Form von Tafeln an Hauswänden oder Stelen, versehen mit Lebensdaten, Angaben zur ihrer Geschichte und einem Bild, die auf das Schicksal der Menschen aufmerksam machen sollen, angebracht. Mit der Durchführung des Projektes ist die Koordinierungsstelle | Erinnerungszeichen im Stadtarchiv München beauftragt. Sie bearbeitet die Anträge und hilft den Initiatorinnen und Initiatoren bei ihren Recherchen.

Mehr Informationen gibt es unter stadt.muenchen.de/infos/erinnerungszeichen.html

Wer noch tiefer in die Biographien dieser Menschen eintauchen möchte, kann dies seit Anfang des Jahres mit der neuen Webapp zu den Erinnerungszeichen München machen. "Die Lebensgeschichten, die in der Webapp erzählt werden, haben eines gemeinsam: ein verbrecherisches Ende im Nationalsozialismus. Wir möchten denjenigen, die willkürlich in den Tod getrieben wurden, wieder einen Platz in unserer Mitte geben. Denn sie waren Nachbar*innen, Kolleg*innen, Freunde, Familie, Kinder – und mitten in der Stadtgesellschaft verwurzelt bis zu ihrer Verschleppung und Ermordung. Mit den Erinnerungszeichen und der Webapp erinnern wir an sie und daran dass die Menschenwürde unantastbar ist", so Kulturreferent Anton Biebl. Bürgermeisterin Katrin Habenschaden ergänzt: "Sie ist ein wichtiger Baustein des individuellen Gedenkens. Anhand der vielen Einzelschicksale wird deutlich, wie unvermittelt aus Mitbürgerinnen und Mitbürgern Verfolgte wurden. Alles begann mit der Stigmatisierung und Ausgrenzung von Gruppen. Wehren wir uns also, wenn heute wieder solche menschenfeindlichen Ansätze ihren Weg in die Mehrheitsgesellschaft suchen!“

Die Webapp ist mit einer Routenfunktion ausgestattet, die User zu den Standorten der Erinnerungszeichen in der ganzen Stadt führt. Nutzerinnen und Nutzer können gezielt nach Personen und Standorten suchen und sich über spezielle Filterfunktionen Erinnerungszeichen von Personen aus einzelnen Opfergruppen oder in bestimmten Stadtteilen, wie beispielsweise allein der 30 Erinnerungszeichen im Stadtteil Schwabing, anzeigen lassen.

Die App ist unter map.erinnerungszeichen.de abrufbar.

red/ar

Artikel vom 11.10.2022
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