Dafür statt dagegen

Christoph Süß erklärt, was eine offene Gesellschaft ist

Christoph Süß moderiert die BR-Sendung »quer«, immer donnerstags um 20.15 Uhr im Bayerischen Fernsehen. Wiederholungen laufen samstags um 13.15 Uhr auf 3sat, sonntags um 18.30 Uhr und montags um 10.15 Uhr, jeweils auf ARD alpha.	Foto: BR/Foto Sessner

Christoph Süß moderiert die BR-Sendung »quer«, immer donnerstags um 20.15 Uhr im Bayerischen Fernsehen. Wiederholungen laufen samstags um 13.15 Uhr auf 3sat, sonntags um 18.30 Uhr und montags um 10.15 Uhr, jeweils auf ARD alpha. Foto: BR/Foto Sessner

München · Gemeinsam essen und reden, um ein sichtbares Zeichen für Gastfreundschaft, Vielfalt und Freiheit zu setzen: Dazu lädt die Initiative Offene Gesellschaft am 17. Juni bundesweit ein. Das Samstagsblatt der Münchner Wochenanzeiger unterstützt wie viele Anzeigenblattverlage im ganzen Land diese Idee. Aber was ist eine »offene Gesellschaft« überhaupt? Was bringt sie uns wirklich? Johannes Beetz sprach darüber mit Christoph Süß, der im Bayerischen Fernsehen die Sendung »quer« moderiert.

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Samstagsblatt: Am 17. Juni feiern bundesweit Menschen die »offene Gesellschaft«. Der Begriff ist kein Synonym für »Multikulti« oder für die Bereitschaft, Hilfesuchende einzubinden, anstatt sie an den Grenzen abzuweisen. Der Soziologe Harald Welzer ist einer der Initiatoren der Aktion und beschreibt die offene Gesellschaft als »die Form von europäischer Nachkriegsgesellschaft, die den Menschen Freiheit und dabei enorm hohe Sicherheit garantiert«. Wie definieren Sie »Offenheit«?

Christoph Süß: »Offenheit« bedeutet für mich die Möglichkeit zu experimentieren. Man sagt ja immer ganz richtig: Prognosen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Man weiß nicht, was kommt. Gewöhnlich reagieren Menschen und auch die Gesellschaften, in denen sie leben, darauf konservativ. In Bayern gerinnt diese Haltung in dem Satz »Des war scho immer so«. Das ist gar kein so schlechtes Argument. Immerhin hat einen »immer schon« dahin gebracht, wo man ist. Und wenn man noch am Leben ist, hat es also funktioniert. Aber »so war es immer schon« hat wie jede Strategie ihre Grenzen, deswegen muss es in einer offenen Gesellschaft mit der Möglichkeit des sozialen Experiments gekoppelt sein. Man kann neue Beziehungsformen ausprobieren, neue Gemeinschaften, neue Formen von Handel und Geldverkehr etc. Der Ausgang der Experimente ist immer unklar, aber das Zentrale ist die Beweglichkeit, die sie garantieren. Starre Gesellschaften, die sich nicht mehr verändern können, gehen unter. Wenn Sie sich mal ein, zwei Nachmittage verderben wollen, lesen dazu Jared Diamonds »Kollaps«. Viel Spaß!

Samstagsblatt: Der Philosoph Karl Popper hat bereits 1945 in seinem Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« betont, dass in einer offenen Gesellschaft jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt mit seiner Entscheidung den weiteren Lauf der Dinge beeinflussen kann. Wir lesen dagegen oft von Politikverdrossenheit und dem Gefühl mancher Bürger, »abgehängt« oder ohnmächtig zu sein. Kann ein Einzelner sich in einer großen Gesellschaft mit oft langen Entscheidungsprozessen wirklich wirkungsvoll einbringen?

Christoph Süß: Klar. Man weiß nur nie, ob man selbst derjenige ist. Denn es gehört immer mehr als einer oder eine dazu. Aber denken Sie an Roberta Parks, die in den 50ern die Rassentrennung in den Südstaaten der USA nicht mehr hinnehmen wollte. Sie hat die Bürgerrechtsbewegung mitausgelöst. Sicher nicht sie allein. Sie musste zum richtigen Zeitpunkt »nein« sagen. Aber wann der genau ist, weiß man ja nicht, deswegen lohnt es immer, es zu versuchen. Aber man braucht schon eine gewisse Frustrationstoleranz.

Samstagsblatt: Unzählige Menschen haben in Deutschland angepackt, damit Flüchtlinge hier schneller Fuß fassen. Noch nie haben sich so viele Bürger für Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement in ganz unterschiedlichen Bereichen interessiert. Tausende von Menschen gehen plötzlich für Europa auf die Straße – und nicht gegen etwas. Haben Brexit und Trump und das Sichtbarwerden rechtspopulistischer Strömungen eine Gegenbewegung verstärkt?

Christoph Süß: Ich glaube ja. Besonders Donald Trump hat all denen, die gar nicht dezidiert für rechte oder irrationale Politik waren, sondern dafür, dass es nicht so weiter geht wie bisher, gezeigt, was passiert, wenn irrationale Politik tatsächlich offensiv gemacht wird. Das macht zurecht vielen Sorgen. Und die scheinen jetzt größer zu sein, als das Bedürfnis, dem »Establishment« eins auszuwischen.

Samstagsblatt: Die offene Gesellschaft gewährleistet Freiheit und Sicherheit – gegenwärtig werden beide aber gerne gegeneinander aufgerechnet. Popper erklärt: Eine offene Gesellschaft kennt keinen »Heilsplan«, sondern lässt stets Raum für Veränderungen. Für diesen Raum sind Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie religiöse Neutralität von grundlegender Bedeutung – auch für jeden, der »nichts zu verbergen« hat. Wird es schwieriger, Menschen zu überzeugen, dass es Freiheit und Sicherheit nur im »Gesamtpaket« gibt? Und warum sind beide in offenen Gesellschaften besser zu gewährleisten als in Staaten, die »von starker Hand« gelenkt werden?

Christoph Süß: Zum zweiten Teil der Frage zuerst. Es scheint ja auf der Hand zu liegen, dass der »Krieg gegen den Terror« und die mit ihm einhergehende Erosion von demokratischen Freiheiten das angeblich bekämpfte Problem in keiner Weise verringert hat. Wenn überhaupt, dann im Gegenteil. Jetzt also weiter die Verstärkung der Strategie zu fordern, die erfolglos ist, ist reine Ideologie. Zum ersten Teil – nun, es ist eben ein Naturgesetz, dass man Dinge leichter kaputt machen als aufbauen kann. Will sagen: Jeder Terroranschlag gibt vermeidlich denen Recht, die Einschränkungen bei der Freiheit fordern, die sie angeblich beschützen wollen. Aber die Freiheit behält man nicht, indem man einen Zaun rummacht, das liegt auf der Hand. »Zaun rum« bedeutet Knast. Und Knast ist das Gegenteil von Freiheit.

Samstagsblatt: Welche Errungenschaft unserer offenen, demokratischen Gesellschaft ist in ihren Augen die wichtigste?

Christoph Süß: Die Erinnerung an die Verbrechen der Nazi-Herrschaft. Das ist weltweit doch recht einzigartig, dass ein Land den scheußlichen Teil seiner Geschichte nicht leugnet oder ignoriert, sondern in Gedenktagen begeht und in der Schule unterrichtet. Das hat viel Gutes ausgelöst, glaube ich. Und persönlich freut mich die Möglichkeit meiner Mitmenschen, ihre Liebesbeziehungen so zu organisieren, wie sie wollen. Stellen Sie sich vor, es wäre wie in den 50ern – wer will da wieder hin?

Samstagsblatt: Dass ein demokratisches Gemeinwesen und die in ihm erreichte Lebensqualität nichts Selbstverständliches sind, ist inzwischen eine selbstverständliche politische Phrase geworden. Wie füllt man die Forderung, das Erreichte zu bewahren und an die nächste Generation weiterzugeben, ganz praktisch mit Leben? Wo bitte fange ich als einer von 80 Millionen Einzelnen damit an?

Christoph Süß: Bei mir! Wo sonst? Ich bin meine nächste soziale Beziehung. Und ich kann mich fragen: Wie will ich gewesen sein, wenn ich mal abtreten muss? Will ich jemand sein, der immer ängstlich war und neidisch und dessen größter Triumph es war, wenn er (oder sie) abends zu Bett geht, sich zu sagen: Ich bin heute nicht betrogen worden! Oder will ich jemand sein, der großzügig, humorvoll und ein wenig mutig war? Ja, dann kann es sein, dass man auch mal ein wenig über den Tisch gezogen wird. Aber was soll’s? Man lebt nur einmal.

Samstagsblatt: Jede Hochkultur und jede Zivilisation in der Geschichte der Menschheit sind – bisher ausnahmslos – wieder untergegangen. In den Geschichtsbüchern wird dies fast immer an militärischen Ereignissen festgemacht. In der Regel ist es aber so, dass es nicht gelingt, tradierte Wertvorstellungen und bis dato erfolgreiche soziale Strukturen rechtzeitig an veränderte ökologische oder ökonomische Bedingungen anzupassen. Geht in Gesellschaften, gerade wenn sie erfolgreich sind, das Bewusstein für das »sich immer wieder verändern Müssen« – also schlicht das »Offensein« – zwangsläufig verloren?

Christoph Süß: Das werden wir sehen. Wie schon erwähnt: Prognosen sind schwierig, besonders wenn …Vielleicht ist das so. Aber vielleicht ist es jetzt noch nicht so. Das liegt an uns. Und was würden wir uns ärgern, wenn unsere schöne Kultur an unserer Langeweile oder Blödheit zugrunde geht. Ich finde, es sollte etwas Spektakuläreres sein. Keine Ahnung was, aber irgendwie … anders.

Samstagsblatt: Angst vor Veränderungen – oft ohne diese überhaupt konkret fassen zu können, ist ein Motor für die gegenwärtig an vielen Stammtischen zu beobachtende Bereitschaft zur Radikalisierung. Kann man Angst mit Offenheit auffangen? Die Offenheit für Andere und andere Argumente – siehe den Grundsatz »audiatur et altera pars« (auch die andere Seite soll gehört werden) – ist ja wesentliche Wurzel einer »abendländischen« »Leitkultur«.

Christoph Süß: Sie sind ja was gebildet, eh! Aber ich glaube, Sie geben sich die Antwort in Ihrer klugen Frage schon selbst. Medien können Meinungen und Stimmungen verstärken. Insbesondere »soziale« Medien tun dies in einer Geschwindigkeit, die die Prüfung auf Wahrheit und Fakten gar nicht mehr zulässt. So wird das Bild einer Gesellschaft gezeichnet, die viel gefährlicher, erdrückender und gewalttätiger ist als die Wirklichkeit. Offenheit braucht Gelassenheit – und manchmal auch etwas Langsamkeit.

Samstagsblatt: Wie sehen Sie als »Fernseh-Mann« die Aufgaben der Medien? Verkaufen sich wirklich nur schlechte Nachrichten?

Christoph Süß: Leider. Schlechte Nachrichten sind welche. Gute eigentlich nicht. Wer würde die Schlagzeile wollen: »Heute alles wie gestern«? Aber ab und zu gibt es ja auch Schlagzeilen wie »Volkskrankheit Rückenschmerzen«. Das ist ja fast so was. Aber Sie haben recht. Die Wahrheit steht auf dem Spiel. Nur – sie stand immer schon auf dem Spiel. Heute besteht die Kunst im Umgang mit den Medien vielleicht noch mehr als früher darin, das Meiste zu ignorieren.

Samstagsblatt: Populisten nehmen gerne für sich in Anspruch, für eine »schweigende Mehrheit« zu sprechen. Dabei sprechen sie einfach nur lauter und hemmungsloser als andere. Braucht es Aktionen wie den »Tag der offenen Gesellschaft«, um der schweigenden Mehrheit ein Forum zu geben und dieser Mehrheit bewusst zu machen, dass sie genau das ist: die Mehrheit?

Christoph Süß: Ich bin davon überzeugt und ich hoffe, dass es funktioniert. Wir sind die Mehrheit. Und die Mehrheit soll gemeinsam essen und ratschen und feststellen: Keine Ahnung, ob wir das Volk sind, aber das ist uns auch wurscht. Wir wollen weiter selber diejenigen Menschen sein, mit denen wir auch zusammen leben wollen.

Über Christoph Süß
Die Moderation der Sendung »quer« im Bayerischen Fernsehen hat den Kabarettisten über Bayern hinaus bekannt gemacht. Seit dem Start der Sendung im Jahr 1998 ist Süß das Gesicht von »quer«. Damals war er 30 Jahre alt und dabei, sich als Kabarettist einen Namen zu machen. Bühnenerfahrung hatte Süß bereits in seiner Schülerzeit an der Realschule in Moosach und am Gymnasium in Neuhausen gesammelt. Sein Philosophiestudium beendete er zugunsten seiner Bühnenkarriere. Vor 19 Jahren wurde der gebürtige Sendlinger für das Bayerische Fernsehen entdeckt. Seit 2009 ist Süß Träger des Bayerischen Fernsehpreises (für die Moderation von »quer«) und der Bayerischen Staatsmedaille (für Verdienste um die Umwelt). 2015 erhielt Süß den Ernst-Hoferichter-Preis. Die gleichnamige Stiftung verleiht den Preis Münchner Autoren, die Originalität, Weltoffenheit und Humor verbinden.

Artikel vom 16.06.2017
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