Mentor für Street-Art und Graffiti

Giesing/Harlaching · David Kammerer ist neuer Graffiti-Stadtviertelbeauftragter

Prägnanter Mittler zwischen vitaler Kulturszene und Stadtteil: David Kammerer beeindruckt als neuer Graffiti-Beauftragter für Untergiesing längst nicht nur optisch.	Foto: HH

Prägnanter Mittler zwischen vitaler Kulturszene und Stadtteil: David Kammerer beeindruckt als neuer Graffiti-Beauftragter für Untergiesing längst nicht nur optisch. Foto: HH

Giesing/Harlaching · »Sie werden mich nicht übersehen, ich sehe in etwa so aus wie Gandalf!« Axel Kammerer hat mit der Selbstbeschreibung der eigenen optischen Nähe zur fiktiven Tolkien-Figur aus »Herr der Ringe« nicht übertrieben.

Beim Treffen mit dem offiziell neuen Graffiti-Beauftragten für Untergiesing-Harlaching zieht der 48- jährige Vollbartträger mit wallendem Lodenmantel, kräftigem Lederoutfit und wuchtigem Naturholz-Spazierstock die Aufmerksamkeit vieler Betrachter auf sich. Dabei lässt Kammerer unter seinem Künstlernamen Cemnoz viel lieber seine opulenten Bildwerke für sich sprechen. Cemnoz ist ein bekanntes Gesicht in der Szene, ein Mann der ersten Sprayer-Stunde vor gut 30 Jahren.

Der Mann mit dem voluminösen Rauschebart hat in Sachen Street Art eine tolle Karriere hinter sich gebracht und auch hinter den Kulissen vieles bewegt. Beim Aufbau des Kulturtempels „Die Färberei“ war er einst als Mitarbeiter des Kreisjugendrings höchst aktiv dabei. Zuletzt während eines mehrjährigen Berlin-Aufenthaltes ist er dort tief in die Hauptstadt-Kreativszene eingetaucht. Der in Denning und Schwabing aufgewachsene, ehemalige Waldorfschüler hat in beiden Städten farben- und formenstrotzende Spuren hinterlassen. Kammerer, der sich in seinem frühen Werk der »Befreiung der Typographie aus zu engen Formen« verschrieben hatte, ist in der eigenen Breite seines Wirkens längst »ins Abstrakte gegangen«. Er schafft dreidimensionale Graffiti-Welten. Das eigene Kunst-Handwerk hat der sympathische Schlaks ganz bodenständig gelernt: An der Münchner Akademie studierte er bei Gerhard Berger. Heute lebt er in Dachau – hat zuletzt auf einer großen Industriebrache in Freimann im Chor mit vielen anderen darstellenden Künstlern graue Gewerbewände erhellt und zu intensivem 3D-Leben erweckt.

Beim Thema »Wohnort Dachau« gelangt Kammerer über gedankliche Umwege zu seiner neuen Funktion. »In München leben, das kann und will ich mir derzeit nicht leisten«, erklärt kammerer. »Der zunehmende Einheitsbrei der Architektur hier schreckt mich ab«. Die Graffiti-Szene begreift Kammerer in seinem künstlerischen Anspruch durchaus auch als Kontrapunkt der aus seiner Sicht eindimensionalen Stadtplanung. »So lange solche Städte gebaut werden, alte Bausubstanz zunehmend gestalterischer Gleichförmigkeit im Neubau weichen muss, so lange ist auch der Akzent der Graffiti-Kunst dringend gefragt, um Contra-Punkte zu setzen«, erklärt er. Heute sei »Vielfalt im Staädtebau nicht erwünscht«. Diese Vielfalt gelte es wenigstens künstlerisch einzubringen. Nachdem sich »Cemnoz« als Sachbearbeiter für Street Art und Graffiti im Kulturreferat nach kurzer Zeit wieder verabschiedet hatte (»ich bin kein Verwaltungstyp«) hat er die aktuelle Aufgabe als ehrenamtlicher Graffiti-Beauftragter für den Stadtteil Untergiesing-Harlaching »gerne« übernommen.

Sie entspricht offenbar auch dem Zeitgeist. Lobend erwähnt Kammerer die jüngste Entscheidung der Stadt, für 2016 die Fördermittel für Street Art und Graffiti von bislang 80.000 auf rund 180.000 Euro mehr als zu verdoppeln und damit den künstlerisch-sozialkritischen Anspruch auch an der Isar künftig stärker zu betonen. Kammerer selbst sieht sich als Mittler zwischen den Welten der darstellenden Künste und des Stadtteils. »Ich soll und werde geeignete Wände für die Street-Art-Kunst aquirieren, Gespräche mit Hausbesitzern über mögliche einvernehmliche Verschönerungen suchen sowie Angebote und Anfragen sondieren.« Es gebe diese Angebote von Immobilieneigentümern, die offen auf die Szene zugingen, unterstreicht der neue Beauftragte. Derzeit sei er im 18. Stadtbezirk gerade mit der ›Gelände-Sondierung‹ befasst. »Wir brauchen große Wände« wirbt er aus Sicht seiner Künstlerkollegen für die Möglichkeit nach breiter Entfaltung. Die Werke etwa entlang der Pfeiler an der Candid-Unterführung oder am Hans-Mielich-Platz entlang der Bahn-Lärmschutzaufbauten seien nur ein Anfang. Entlang der Brudermühlbrücke bestünden noch Optionen. Weitere sollen folgen.

Noch sei München – und auch Untergiesing – an vielen Stellen »zu hübsch eindimensional«. Hier will Kammerer künftig aktiver Mittler sein zwischen Kunstszene und Bürgerschaft. Ausgerechnet die oft viel gescholtene Telekom sei in gewisser Weise sogar zum geistigen Kulturvorreiter mutiert. »In bescheidenem Umfang«, schränkt Kammerer gleich wieder ein. Immerhin lasse der Konzern aber seine trist-grauen Verteilerkästen mittlerweile offiziell von den Sprayern verschönern. Ein Anfang, immerhin. Einer wie Kammerer ist aber auch ausgleichender Faktor. »Es gilt, die künstlerischen Koordinaten sensibel auszuloten«, beschreibt er seinen Ansatz. »Man darf die Leute vor Ort auch nicht überfordern«.

Klar sei er gegen den Ansatz eingestellt, Graffiti als zusätzlkich Faktor einer um sich greifenden Krake Gentrifizierung zu begreifen. »Eine hippe Szene aus Graffiti sprühenden Yuppies ist mir ein Gräuel«, unterstreicht er plastisch. Vielmehr müsse auch das Gewachsene Bestandsschutz erhalten. David Kammerer scheint als Street-Art-Beauftragter ein gute Wahl zu sein. Dem weisen Gandalf ähnelt der visionäre Geist Cemnoz jedenfalls nicht nur optisch. Harald Hettich

Artikel vom 08.12.2015
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