Die Kur für den Beruf

Eine Erfolgsgeschichte über das virtuelle Bier aus Kirchseeon

Thomas Schama ist der BFW-Projektleiter der Bayerischen Brau AG mit Sitz in Kirchseeon.	Foto: BFW

Thomas Schama ist der BFW-Projektleiter der Bayerischen Brau AG mit Sitz in Kirchseeon. Foto: BFW

Kirchseeon · Die Bayerische Brau AG des Berufsförderungswerks München in Kirchseeon gibt es nicht. Sie braut kein Bier und verkauft es auch nicht im Internet.

Ansonsten aber macht diese nichtexistente Firma alles, was ein Unternehmen eben so tut: Produkte entwickeln, Aufträge an Land ziehen, Kunden betreuen, Rechnungen schreiben und Bilanzen erstellen. Denn die Bayerische Brau AG ist eine »Übungsfirma« – dafür gemacht, angehenden Kaufleuten ihr Handwerk beizubringen.

Thomas Schama leitet das Projekt im Berufsförderungswerk München (BFW). Langweilig wird ihm dabei nicht, auch wenn die Firma schon seit 40 Jahren das gleiche virtuelle Bier vermarktet. »Jedes Jahr überlegen wir uns neue Methoden, unsere Kunden anzusprechen«, sagt Schama. »In diesem Jahr haben unsere Teilnehmer einen Kiosk entworfen, um den Straßenverkauf anzukurbeln.« Da die imaginären Anwohner des Kiosks von der virtuellen Lärmbelästigung aber virtuell entsetzt waren, ist für nächstes Jahr lieber wieder etwas anderes geplant: »Neue Produktionsstraßen wären langsam mal wieder nötig«, meint Schama. Wem aber verkauft die Bayerische Brau AG ihre Produkte, wenn sie nichts herstellt? Ihre Abnehmer sind die ca. 500 anderen Übungsfirmen, die es zurzeit in Deutschland gibt. Alle diese virtuellen Betriebe handeln miteinander und alle haben alles, was eine Firma braucht – außer echten Waren und echtem Zahlungsverkehr. Ein Lernfaktor besteht in der Kommunikation untereinander: Die Teilnehmer telefonieren und führen den Schriftverkehr unter realen Bedingungen. Das schult nicht nur fachlich, sondern auch menschlich: Wie gehe ich mit Kunden um? Wie verkaufe ich richtig? Solche Erfahrungen bietet die Übungsfirma im geschützten Rahmen.

Durchlaufen wird die »Bayerische Brau AG« bereits seit über 40 Jahren von den im BFW angebotenen kaufmännischen Ausbildungsgängen: Die zukünftigen Kaufleute für Büromanagement sammeln hier ebenso ihre ersten Erfahrungen wie die angehenden Industriekaufleute und die Verwaltungsfachangestellten in spe. Dabei sind den Lerninhalten so gut wie keine Grenzen gesetzt. »Nur den in der freien Wirtschaft so vieles bestimmenden Kostendruck spüren die Leute natürlich nicht«, schränkt Schama ein. »Unsere Teilnehmer und Teilnehmerinnen haben nur ihre Ausbilder im Nacken.« Die Idee der Übungsfirmen ist schon jahrhundertealt: Bereits 1660 erschien das Lehrbuch »Commission und Factorey«, das die Schüler in einer Art Rollenspiel ihr Handwerk üben ließ. Heutzutage wird dieses pädagogische Modell vor allem in der Erwachsenenbildung eingesetzt.

Im Berufsförderungswerk München in Kirchseeon konkret während der »beruflichen Rehabilitation«, einer Umschulung aus gesundheitlichen Gründen. Je nach Lehrgang arbeiten zwischen 20 und 40 Personen in der Übungsfirma. Einer davon ist Serkan Ergin (34). Ergin arbeitete 14 Jahre lang als Industriemechaniker. In seiner Freizeit spielte er Fußball auf hohem Niveau. Nach drei Kreuzbandrissen konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben. Deswegen fing er eine Umschulung im Berufsförderungswerk München an. »In der Übungsfirma lernt man vieles von Grund auf, was man in der reinen Praxis so nie erfährt«, sagt Ergin. »Mathe zum Beispiel: Eine Bilanz erstellen und lesen, so etwas konnte ich vorher nicht.« Als angehender Industriekaufmann hofft er nun auf eine Karriere bei der Stadt München oder als Filialleiter einer Supermarktkette.

Peter Wolf (49) hat in seinem Leben schon länger gearbeitet als Kollege Ergin auf der Welt ist: 35 Jahre Berufserfahrung hatte der gelernte Landschaftsgärtner bereits vorzuweisen, als ihn seine angeschlagene Gesundheit zu einer beruflichen Umschulung zwang. Dass sich die Übungsfirma im BFW München ausgerechnet das Thema »Bier« ausgesucht hat, findet er sehr passend. »Vergangenes Jahr waren wir auf der Übungsfirmenmesse in Essen«, erzählt Wolf. »So weit nördlich haben wir gemerkt, dass sich Bayern wirklich am besten mit Bier präsentieren kann.«

Und die Erfolgsaussichten für den beruflichen Wiedereinstieg von Ergin und Wolf sind also durchaus vielversprechend. »Vom letzten Jahrgang wurden 50 Prozent direkt nach der Prüfung in den Arbeitsmarkt übernommen. Nach sechs Monaten liegt die Eingliederungsquote bei etwa 85 Prozent«, sagt André Stiefenhofer vom Berufsförderungswerk. Bei individuellen Umschulungen wie bei Peter Wolf sei die Eingliederungsquote in dem alten Betrieb »naturgemäß bei 100 Prozent«, führt Stiefenhofer weiter aus.

Wer sich die virtuellen Produkte der Bayerischen Brau AG näher anschauen möchte, findet sie auch unter: http://shop.strato.de/epages/554730859.sf im Internet. Welche Übungsfirmen des Berufsförderungswerks sonst noch existieren kann man unter www.die-zentralstelle.de nachlesen.

Zum Hintergrund:

Das Berufsförderungswerk München in Kirchseeon ist ein Zentrum für berufliche Rehabilitation, das heißt, wer zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in seinem Beruf arbeiten kann, wird hier mit medizinischer und psychologischer Begleitung umgeschult. Bezahlt wird diese verkürzte zweijährige Ausbildung je nach Fall entweder von der Rentenversicherung, den Berufsgenossenschaften, der Agentur für Arbeit oder den Jobcentern. Das Gelände des Berufsförderungswerks in Kirchseeon umfasst ein Wohnheim für 450 Teilnehmer an beruflichen Bildungsmaßnahmen sowie eine moderne Ausbildungswerkstätte für IT-, Elektrotechnik-, Maschinenbau-,Kaufmännische/Verwaltungs-, Bau-, Sozial- und Gesundheitsberufe.

Integriert ist außerdem ein »Ausbildungshotel«, in dem angehende Hotelfachleute erste Erfahrungen in ihrem Beruf sammeln können. »Was wir tun, ist sehr umfangreich und im Grunde hat kein Mensch eine Ahnung, dass er einen Rechtsanspruch auf eine Umschulung hat«, so Stiefenhofer abschließend. Es lohnt sich also sich genauer beim BFW über dieses einmalige Angebot zu informieren. sd

Artikel vom 30.06.2015
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