Pflege wird immer häufiger benötigt - die Anerkennung derer, die sie leisten, hinkt hinterher

„Man muss die Menschen mögen“

Schwerstarbeit: Patienten richtig betten und bewegen: Schüler der LMU-Krankenpflegeschule üben gemeinsam.	Foto: Klinikum LMU

Schwerstarbeit: Patienten richtig betten und bewegen: Schüler der LMU-Krankenpflegeschule üben gemeinsam. Foto: Klinikum LMU

München · „Man muss die Menschen mögen“, sagt Adriana Klomp über ihre Tätigkeit - und das tut sie: Die 42-Jährige ist Schülerin der Ev. PflegeAkademie in Obersendling und wird bald eine der dringend benötigten Gesundheits- und Krankenpfleger sein.

Ihre Berufsaussichten sind hervorragend, denn Fachkräfte wie sie werden händeringend gesucht.

Mehr Bedürftige, weniger Fachkräfte

Die Menschen in Deutschland werden immer älter - und je mehr ältere Menschen es gibt, umso mehr pflegebedürftige sind unter ihnen (unter den 70- bis 75-Jährigen ist nur einer von 20 pflegebedürftig, aber mehr als jeder zweiter von den 90-Jährigen und Älteren ist es).

Auf der anderen Seite mangelt es an Fachkräften: Die entstehenden Lücken sind in den Sozialberufen bereits schmerzhaft zu spüren: In München können Krippen- und Kita-Gruppen nicht eröffnet werden, weil Erzieher fehlen; das Klinikum der LMU kann mangels Fachkräften in der Kinderonkologie „nicht alle Betten so betreiben, wie wir es wünschen“, wie Pflegedirektorin Helle Dokken erklärt; und die rückläufige Belegung von Pflegeheimen führt das Sozialreferat der Stadt München nicht nur darauf zurück, dass immer mehr Menschen immer länger zuhause leben können, sondern auch darauf, dass Pflegekräfte Mangelware sind.

Bei der Agentur für Arbeit München waren im September lediglich 36 Fachkräfte in der Altenpflege als arbeitslos gemeldet, aber 60 werden gesucht. Die Lücke klafft bereits in der Ausbildung: 650 Ausbildungsplätze boten die vollstationären Pflegeheime in München 2012 an - 171 davon blieben (laut Marktbericht Pflege der Stadt München) unbesetzt. „Sicher ist, dass in München ein deutlicher Fachkräftemangel in den Gesundheits- und Pflegeberufen herrscht“, bestätigt der Sozialverband Deutschland (SoVD), „denn 2013 lag die Vakanzzeit in München bei diesen Jobs 40 Prozent über dem Bundesdurchschnitt aller Berufe. Dies ist ein Alarmsignal.“

Die Belastung nimmt zu

Wer im Pflegebereich arbeitet - sei es in der Altenpflege oder im Krankenhaus - kommt schnell an seine Grenzen. Der Job bedeutet eine hohe Verantwortung, unterstreicht Gabriela Reger, die Leiterin der Berufsfachschule für Krankenpflege Maria Regina: „Die Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger ist sehr umfangreich und auf einem hohen Niveau. Die Pflegefachkräfte haben eine hohe fachliche Qualität und können sich auf komplexe Pflege- und Krankheitssituationen einstellen. Durch die kurze Verweildauer der Patienten im Krankenhaus müssen Pflegekräfte sehr flexibel sein, eine schnelle Reaktionszeit haben und ein kompetentes Wissen anwenden können.“

Auch Helle Dokken, als Pflegedirektorin des LMU-Klinikums für gut 3.400 Arbeitnehmer verantwortlich, weist auf die steigende Belastung des Personals hin: Krankenpflege ist weitaus komplexer als es den meisten bewusst ist. Gerade Spezialbereiche wie Intensivpflege verlangen viel Wissen, längere Einarbeitungszeiten, höhere Verantwortung.

In Norwegen müsse sich eine Klinik-Pflegekraft (im stationären Bereich) im Schnitt um 3,7 Patienten kümmern - in deutschen Kliniken sorgt dieselbe Pflegekraft für zehn Patienten. „Unser Pflegepersonal wird über Gebühr strapaziert“, schildert Dokken die aktuelle Situation in manchen Bereichen. Eine Folge: „Wir reduzieren die Aufnahmen.“ Mittelfristig fordert sie eine Akademisierung der Pflegeberufe, damit die Patienten auch bei komplexeren Fällen sicher betreut werden.

Drei von vier werden zuhause gepflegt

5.132 Personen waren 2011 laut Pflegebericht bei den 213 in München tätigen Pflegediensten beschäftigt, 5.046 Pfleger arbeiteten in den Heimen. Doch in der Regel übernimmt die Familie die Betreuung von Angehörigen: Drei von vier Pflegebedürftigen leben zuhause. Das Sozialreferat ist stolz auf diesen hohen Anteil (in anderen Großstädten werden bis zu 50 % in Heimen versorgt), denn er kommt dem Wunsch der Menschen entgegen, möglichst lange in ihrer vertrauten Umgebung bleiben zu können. Dieses Ziel unterstützt die Stadt mit Beratungs- und Servicestellen. „In München ist es daher kein Problem, einen Platz in einem Pflegeheim zu bekommen“, so ein Sprecher des Sozialreferats. Das Angebot - das in den letzten Jahren kontinuierlich erweitert wurde - sei ausreichend (aktuell weist die Datenbank der Münchner Pflegebörse allerdings keinen einzigen freien Platz in Stadt und Landkreis München aus).

Für den SoVD sind „in der Hauptsache die Familien Deutschlands Pflegedienstleister“. Wie die Fachkräfte seien auch die pflegenden Angehörigen hohen Belastungen ausgesetzt. SoVD-Präsident Adolf Bauer fordert daher spürbare Entlastungen für die Angehörigen. „Sie deutlich stärker zu unterstützen, wäre ein wichtiges Signal!“

Anfragen werden anspruchsvoller

Dass diese Unterstützung eingefordert wird, zeigt der Jahresbericht 2013 der Münchner Pflegebörse, die wachsende Zahlen verzeichnet. „Die Anfragen der Angehörigen werden immer differenzierter und anspruchsvoller“, stellt die Pflegebörse fest. Ging es früher meist um einen stationären oder Kurzzeitpflegeplatz, so werden heute häufig alternative Wohnformen angefragt wie z.B. Senioren-Wohngemeinschaften, Wohnen mit Service oder Wohnen für Hilfe. Nicht allen kann die Börse helfen: „Auch Anfragen für jüngere Patienten häufen sich, die wir aber leider mit unseren Angebot kaum abdecken können“ (drei Prozent aller Pflegebedürftigen in Deutschland sind Kinder unter 15 J.).

Familienpflege ist ein Fehlschlag

Eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Pflege in der Familie fordert auch der VdK seit langem. Die 2011 eingeführte „Familienpflegezeit“, die Arbeitnehmern die Pflege von Angehörigen ermöglichen sollte, hat nichts dazu beigetragen. Als „nicht praxistauglich“ bewertet VdK-Präsidentin Ulrike Mascher die Regelung. Sie wurde von so wenigen Arbeitnehmern in Anspruch genommen, dass die zuständigen Ministerien in Land und Bund den Wochenanzeigern dazu keinerlei Zahlen nennen mochten. Der VdK verweist auf eine Abfrage 2012: Danach hatte z.B. bei der Deutschen Post lediglich ein einziger der 150.000 Beschäftigten eine Familienpflegezeit durchsetzen können.

„Sich nur auf den guten Willen der Unternehmen zu verlassen, war der falsche Weg“, so Mascher, „leider haben wir dadurch wieder einige wertvolle Jahre für die pflegenden Angehörigen verloren.“ Diese leisten „über Jahre hinweg physische und psychische Schwerstarbeit und entlasten Beitrags- und Steuerzahler um Milliardenbeträge. Deshalb ist die Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ein wichtiger Schritt, damit unser Pflegesystem nicht kollabiert“, betont die VdK-Präsidentin.

Was können Arbeitgeber?

Manche Arbeitgeber haben verstanden, dass Mitarbeitern andere Dinge wichtiger sind als Status und Gehalt. So bieten die SWM etwa ein Online-Pflegeportal für Mitarbeiter an, in dem sie Unterstützung für ihre Familienarbeit erhalten. Dies ergänzt die betrieblichen Maßnahmen, die die SWM für pflegende Angehörige bereits ergriffen haben. Ein Eltern-Kind-Büro bietet Vätern und Müttern zudem die Möglichkeit, kurzfristige Ausfälle in der Kinderbetreuung zu überbrücken.

Auch das LMU-Klinikum bietet familienfreundliche Teilzeitzjobs an - ab 3,75 Stunden pro Woche ist jedes Modell dabei. 50 Prozent der Pflegekräfte in der Haunerschen Kinderklinik sind Teilzeitkräfte. Doch in einem Bereich, in dem der lebenswichtige Betrieb rund um die Uhr laufen muss, können solche Modelle nicht alles auffangen. Das Klinikum versucht, u.a. mit Fortbildungen im eigenen Haus seine Mitarbeiter an sich zu binden und auch ältere Fachkräfte zu halten. Daneben stehen rund 1.400 Wohnungen für das Klinikpersonal zur Verfügung - nicht genug. „Die Top-Krankenschwester aus Hannover, die Familie hat, kommt so nicht her“, weiß Dokken. Satt über gefühlt hohe Mieten zu klagen, fordert sie mehr Geld für die Fachkräfte: „Verantwortung muss sich monetär besser darstellen!“ Dazu benötigen die Kliniken aber mehr Geld.

Anerkennung und Geld fehlen

„Die Anerkennung der Pflegekräfte in Deutschland muss sich durch mehr gesellschaftliche Würdigung und durch bessere Bezahlung ausweisen“, ergänzt Gabriela Reger, „ich wünsche mir für meine Schüler, dass sie ihr Wissen anwenden können und entsprechend bezahlt werden. Außerdem muss der Verantwortungsbereich für die Pflege erweitert werden, so dass sie ihre Kompetenzen auch anwenden können.“

„Pflege ist ein anspruchsvoller Beruf“, betont wie sie Arbeitsagentur-Chef Harald Neubauer. Neubauer, „wer täglich Menschen in außergewöhnlichen Situationen unterstützt, benötigt mehr als eine solide Ausbildung mit Abschluss. Erforderlich sind hohe psychosoziale und medizinische Kompetenz. Man muss kommunikations- und beziehungsfähig sein, die Nähe zu Menschen zulassen. Gerade dann, wenn sie sich in Krisensituationen befinden. Manuelle Geschicklichkeit und die Bereitschaft, lebenslang zu lernen, sind unverzichtbar. Ganz wichtig ist soziale Empathie. Pflege ist nichts, das man nur ableistet.“

Würdevolle Pflege sicherstellen

Für die Politik bleibt also viel zu tun. „Das Erwachen kommt immer erst dann, wenn man in irgend einer Form selber betroffen ist“, bedauert Lisa Hirdes, die Leiterin der Ev. PflegeAkademie. Zwar wird ein neues Pflegestärkungsgesetz im Oktober im Bundestag beraten (es soll am 1. Januar 2015 in Kraft treten), doch der VdK kritisiert den Entwurf. Beispiel: „Für die 1,5 Millionen Demenzkranken und ihre pflegenden Angehörigen ist immer noch keine wirkliche Entlastung in Sicht“, so Ulrike Mascher. Auch der SoVD fordert grundlegende Reformen. „Es geht darum, eine würdevolle und bedarfsgerechte Pflege heute und künftig sicherzustellen“ sagte SoVD-Präsident Adolf Bauer und warnte vor den Folgen einer fortwährenden „Notpflaster-Politik“ zu Lasten der Millionen Pflegebedürftigen und Pflegenden in Deutschland.
Für die Politik bleibt viel zu tun. Aber dazu muss man, wie Adriana Klomp weiß, „die Menschen mögen“.

Artikel vom 10.10.2014
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