Werte: Jeder baut auf ihnen auf. Aber es wird schwieriger, sie zu finden - und zu leben

Sommergespräch: „Richtig und Falsch existieren nicht mehr“

Cemal Günes, Benedikt Kämmerling, Ingrid Appel, Ulrike Mascher (von links) sprachen über Werte.	Foto: Patricia Prankl

Cemal Günes, Benedikt Kämmerling, Ingrid Appel, Ulrike Mascher (von links) sprachen über Werte. Foto: Patricia Prankl

München · Ehrlichkeit, Loyalität, Empathie – nur noch leere Worte oder auch heute gültige Werte?

Sommergespräche: Gesellschaftliche Debatten haben bei uns einen Platz
Wir beleuchten kontroverse Themen von allen Seiten

Was halten wir geistig oder ideell noch für erstrebenswert, wie das laut Definition einen Wert ausmacht? Richten wir uns überhaupt noch an Werten aus, wo doch immer wieder von Werteverlust und Werteverfall die Rede ist? Oder ist das Wertesystem der Gesellschaft im Grunde gleich geblieben und das immer wieder aufkeimende Geschimpfe auf die Facebook-Jugend, der ein Referenzrahmen fehle, stellt sich lediglich als sogenannter Generationenkonflikt heraus, wie es ihn schon immer gab? Welche Werte sind uns wichtig?

„Ich habe noch nie Schulden gemacht“

„Ich bin in einem gut bürgerlichen Beamtenhaushalt aufgewachsen, wo sehr tradierte, sehr konservative Werte eine Rolle gespielt haben. Und die Werte, die ich da mitbekommen habe, die lebe ich im Grunde auch heute noch. Natürlich eingebettet in einer sich verändernden Welt“, erklärt Winfried Bürzle. „Das sind Nächstenliebe, Zuverlässigkeit, Verlässlichkeit, Freundschaft, zu jemandem stehen. Aber auch ganz materielle Werte: Ich habe in meinem Leben noch nie Schulden gemacht. In dieser Bürgerlichkeit aber – und das ist das Schöne – war mir immer die Freiheit meines persönlichen Geistes gegönnt.“

„Bekämpfte“ Werte bleiben relevant

Benedikt Kämmerling, mit 30 Jahren der jüngste Gesprächsteilnehmer, beschreibt: „Meinen Eltern war es vor allem wichtig, dass ich mich selber entwickle, so wie ich das gerne möchte. Individualität war als Wert ein ganz wichtiger Punkt. Ich glaube aber trotzdem, dass das Konservative, dieses Bayerische, diese gewisse Grundhaltung zu Themen wie Freundschaft, Zugehörigkeit, Loyalität bei mir auch guten Boden gefunden haben. Jetzt, in den Jahren später, habe ich immer wieder festgestellt, dass gerade diese Werte, die ich eigentlich früher versucht habe auszuschließen bzw. sogar dagegen anzukämpfen, trotzdem vorhanden sind. Einerseits ist es wichtig, Freiheiten zu haben, und andererseits ist diese Rückkehr, diese Besinnung auf diese Werte, die eine Gesellschaft, eine Gemeinschaft bilden, relevant.“

„Es war nicht viel anders“

Die Weitergabe von Werten und zugleich die persönliche Entwicklungsfreiheit bestimmten auch Cemal Günes Kindheit in der Türkei: „Es war nicht viel anders als hier. Allerdings hat das Aufwachsen der Kinder mehr in der Familie als im Hort oder im Kindergarten stattgefunden. Das war eigentlich der einzige Unterschied.“ Kulturelle Unterschiede in der Wertevermittlung sieht Günes nicht, wohl aber in Erziehungsfragen: „In der Türkei ist es so, dass die Kinder unwahrscheinliche Freiheiten haben. Sie dürfen fast alles. Das erste was ich hier in Deutschland gesehen habe, waren die Verbotsschilder.“

Verändern sich Wertvorstellungen?

„Ich glaube, dass die Werte sich mit der Zeit ändern“, erklärt Cemal Günes. Anders sieht das Andrea Borger: „Ich denke, die Basiswerte sind eigentlich immer dieselben. Entscheidend ist die Frage: Wie leben wir unsere Werte? Ich denke, dass es dabei von Generation zu Generation Unterschiede gibt. Zum Beispiel habe ich bei mir gemerkt, dass die Prägung meiner Eltern durch die Kriegserfahrungen zu einem ganz hohen Leistungsanspruch an sich selbst geführt hat und den haben sie auch an uns Kinder weitergegeben. Das hat sich im Laufe meiner Entwicklung schon ein bisschen abgeflacht.“

Scheitern muss möglich sein

Nach Borgers Erfahrung würden Jugendliche heute durchaus erleben, dass Werte in die Krise kämen. „Nicht was die Leute reden, sondern was sie tun, ist entscheidend. Es ist wichtig, dass Jugendliche einerseits Werte vermittelt bekommen, aber dass sie auch eine Ehrlichkeit erleben im Umgang mit Wertkonflikten oder auch Scheitern.“ Werte existieren, darüber ist sich die Gesprächsrunde einig. Sie zu leben sei jedoch schwieriger geworden. Den Grund dafür sehen die Gesprächsteilnehmer einhellig im Zeitgeist, der vorherrsche.

„Keiner steht dafür 100-prozentig ein“

Kämmerling meint: „Da setzt wohl die Transformation ein, dass gerade soziale Werte anders gelebt werden und dass Leistung extrem wichtig ist. Ein guter Job, Sicherheit haben, das ist heute unglaublich wichtig. Durch die Pluralität an Möglichkeiten, die ich an Auslebungen der Wertvorstellungen haben kann, daran scheitern die Kinder. Denn da ist letzten Endes keiner da, der 100-prozentig für einen Wert einsteht.“ Bei Facebook poppen 100 Antworten zu einer Frage auf, hier Orientierung zu finden sei ein steiniger Weg: „Richtig und Falsch existieren ja eigentlich nicht mehr. Es existiert das, was ich selbst als richtig erachte“, meint Kämmerling.

„Ich kann das nicht mehr hören“

„Für mich ist ein ganz entscheidender Wert der Wert ‘Leben’“, sagt Helmut Zöpfl. Jeder sollte das Leben selbst schätzen und sehen, dass es lebenswert und wertvoll ist. Die Religion biete ihm dabei sinnhafte Antworten: „Der Glaube, die Hoffnung und die Liebe, diese Haltungen sind mir zehn Mal lieber, als wenn man eine Werteskala aufzählt, die hinten und vorne nicht stimmt, wenn es um wirklich existentielle Fragen geht. Wir müssen schauen, dass wir den Jugendlichen etwas Ehrliches vorleben und sie nicht mit irgendwelchen Pseudowerten füttern und sagen ‘Jetzt haben wir Werte vermittelt.’“ Werte würden auch von der Bildungspolitik ad absurdum geführt: „Wenn man Werte nicht lebt, dann sind sie nichtig. Das Bildungsministerium sagt ‘wir machen jetzt Wertepädagogik.’ Ich kann das nicht mehr hören. Ein Jugendlicher pfeift doch auf diesen Schmarren, wenn der Lehrer es nicht lebt.“

Jung gegen Alt: „Den Konflikt gibt es nicht“

„Alt und Jung ist kein Thema, das trennt“, meint Ingrid Appel. „Du wirst gebraucht, du bist für etwas gut. Das ist für Jung und Alt gleichermaßen wichtig“, ergänzt Helmut Zöpfl. „Bei den Werten hat sich aber auch vieles gewandelt. Zum Beispiel Toleranz oder Freiheit. Die meisten sehen diese nur für sich selbst. Man übergeht es, dass Toleranz eben da endet, wo es dem anderen schadet. Oder Freiheit“, so Appel.
Ulrike Mascher ist der Ansicht: „Es gibt keinen Konflikt Jung gegen Alt. Die Alten interessieren sich nämlich sehr wohl dafür, wie es den Jungen geht. Der Generationenkonflikt, wie er immer herbeigeredet wird, findet so nicht statt.“ Unterschiede zwischen Jung und Alt aber gäbe es. „Die Jugend heute fühlt sich viel mehr unter Druck. Werte haben sie aber auch und sie suchen sie“, erklärt Winfried Bürzle. Von Beatrix Köber

Bei dem Sommergespräch diskutierten:

    Ulrike Mascher (VdK-Präsidentin)
    Ingrid Appel (Seniorenbeirätin Hadern)
    Andrea Borger (Pfarrerin ev. Himmelfahrtskirche Sendling)
    Helmut Zöpfl (ehem. Prof. Schulpädagogik an der LMU)
    Cemal Günes (stv. Bundesvorsitzender der Deutsch-Türkischen Freundschaftsföderation)
    Benedikt Kämmerling (stv. Leiter Laimer Jugendzentrum)
    Winfried Bürzle (Bayerischer Rundfunk, Lehrbeauftragter Medienmanagement)

    Welche Werte sind unseren Gästen besonders wichtig?

    Andrea Borger:

    „Mut und Genauigkeit wären gefragt. Im alltäglichen Leben zu zeigen, was es heißt, für bestimmte Werte einzutreten. Man kann nicht Werte wie Nächstenliebe predigen und auf der anderen Seite eine Schulorganisation oder ein Leistungssystem etablieren, wo die einen die anderen drücken.“

    Cemal Günes:

    „Ich finde es schade, dass das Menschliche immer mehr verloren geht. Dass man mit Nachbarn redet, sich begrüßt, das sind Werte, die ich vermisse.“

    Winfried Bürzle:

    „Die Kantsche Maxime: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde. Das ist Paragraph eins des Zusammenlebens für mich. Und das zweite Wichtige: Urvertrauen und Bindungen. Der Mensch alleine kann nicht. Nicht die quantitative Bindung, sondern die qualitative Bindung ist wichtig.“

    Ulrike Mascher:

    „Die Menschenwürde. Ich glaube das ist etwas, was man sich noch viel mehr klar machen muss.“

    Helmut Zöpfl:

    „Redlichkeit und Ehrlichkeit sind wichtig. Dazu stehen, dass man auch mal Fehler machen kann. Ich würde auch die Ehrfurcht dazusetzen, dass man nicht alles machen kann, dass es Grenzen gibt. Denn Jugendliche kriegen das von der ganzen Gesellschaft nicht mit, dass wir nicht alles wissen oder tun können.“

    Ingrid Appel:

    „Das Miteinander wäre wichtig.“

    Benedikt Kämmerling:

    „Menschlichkeit spielt eine große Rolle und dass ich die auch weitergebe. Dass Jugendliche auf echte Menschen und auf echte Meinungen treffen. Ein Wert, den man vielleicht etwas zurücknehmen könnte, das ist Gehorsam. Ich glaube, Gehorsam nützt keinem etwas. Es ist Respekt der jedem etwas nützt.“

Artikel vom 13.08.2014
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