»Leben mit Usher«

Isarvorstadt/Glockenbachviertel · Blind und taub – wie gehen Betroffene damit um?

Franz Sprenger (l.) und Klaus Blattert vor der Informations- und Servicestelle des BLWG in der Haydnstraße.	Foto: Julia Stark

Franz Sprenger (l.) und Klaus Blattert vor der Informations- und Servicestelle des BLWG in der Haydnstraße. Foto: Julia Stark

Isarvorstadt/Glockenbachviertel · Wie Betroffene mit dem Verlust des Augenlichts bei gleichzeitiger Taubheit umgehen, hat der Bayerische Landesverband für die Wohlfahrt Gehörgeschädigter (BLWG) kürzlich bei einem Tag der offenen Tür in der Haydnstraße in der Isarvorstadt gezeigt.

Für Betroffene finden außerdem jetzt im Mai einige Veranstaltungen statt anlässlich der »Woche der Kommunikation«. Infos gibt es im Internet unter www.blwg.eu. Klaus Blattert, Anwohner aus dem Glockenbachviertel, engagiert sich seit rund zehn Jahren in den Selbsthilfegruppen der Organisation. Der 53-Jährige ist sehbehindert und bei einer Vereinigung für Menschen mit Hörsehbehinderung für Sozialberatung und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. In Gebärdensprache erklärt ein Mann im Film, wie er Geld erkennt. Bei Münzen befühle er die Rillen, den Wert von Banknoten könne er an ihrer Länge bestimmen, indem er sie an seinen Fingern messe, ist auf den Untertiteln zu lesen. Gemeinsam mit Usher-Patienten, die an einem Gendefekt leiden, der langfristig zu völliger Blindheit und Taubheit führen kann und von dem etwa drei bis fünf von 100.000 Deutschen betroffen sind, hat Claudia Maciol vom BLWG Ende April eine zweitägige Ausstellung gestaltet, die einen Eindruck vom Leben mit einer Hörsehbehinderung vermittelt. »Der Tastsinn wird intensiver, dadurch können die Betroffenen einiges ausgleichen«, sagt sie. Franz Sprenger, Leiter der Gruppe »Leben mit Usher«, bestätigt dies. »Als Kind konnte ich Schneemänner bauen«, berichtet er. Inzwischen seien seine Hände so empfindlich, dass es schmerzhaft für ihn sei, Schnee zu berühren.

Schwerhörig ist Sprenger seit seiner Kindheit. Jedoch sei dies lange nicht erkannt worden, erzählt er. Bis zum Alter von zwölf Jahren habe er daher eine Lernbehindertenschule besucht. Nach der Diagnose erwarb er allerdings an einer Schule für Schwerhörige seinen Abschluss und absolvierte eine Ausbildung zum Feinmechaniker. Als 25-Jähriger traf ihn die nächste Schreckensnachricht: Sein Arzt teilte ihm mit, dass er erblinden würde. »Ich habe das damals erst einmal gar nicht verstanden«, erinnert er sich. »Am nächsten Tag bin ich wie immer mit dem Fahrrad in meinen Betrieb gefahren und habe millimetergenau gearbeitet.«

Inzwischen hat sich der 58-Jährige, der lange in der Nähe der Theresienwiese gelebt hat, nun aber in Augsburg wohnt, auf das Leben mit seiner Behinderung eingestellt. Sein Sehvermögen hat er im Alter von 30 Jahren verloren. Bei ihm zu Hause hat alles seinen festen Platz. »Ich weiß immer ganz genau, wo ich was hingestellt habe, auch, wenn es ein Jahr her ist.« Werde ein Gegenstand um zehn Zentimeter verschoben, findet er ihn aber nicht mehr.

Mithilfe eines Hörgerätes kann er außerdem zumindest in abgeschlossenen Räumen, in denen es keine Nebengeräusche gibt, sprechend kommunizieren und dadurch Kontakt zu Nichtbehinderten aufnehmen. Dies sei wichtig, betont er: »Dann hat man nicht mehr das Gefühl, ganz so weit abseits zu stehen.«

Gefahr der Isolation ist groß

Viele Hörsehbehinderte sind aber darauf angewiesen, sich über sogenannte Lormen mitzuteilen, eine spezielle Gebärdensprache, bei der die Zeichen über das Abtasten der Hände erfühlt werden. Jedoch gebe es kaum Menschen, die diese besondere Sprache beherrschen, räumt Maciol ein: »Das treibt die Betroffenen häufig in die Isolation.« Hinzu komme, dass die Einschränkung der Sinne für Außenstehende nicht erkennbar sei, sagt Blattert, der Sprecher der Gruppe »Leben mit Usher«. Oft werde zwar das Blindenzeichen getragen: »Aber wenn die Leute angesprochen werden, können sie nicht reagieren.« Nach einem Mobilitätstraining, in dem das Zurücklegen bestimmter Wege, auch unter Miteinbezug der öffentlichen Verkehrsmittel, gemeinsam mit einem Assistenten eingeübt wird, können sich Hörsehbehinderte allerdings grundsätzlich selbstständig bewegen. »Ich fahre sogar allein nach Italien«, sagt Sprenger. Von Verbänden und Selbsthilfegruppen werde deshalb schon lange gefordert, für diese Gruppe ein eigenes Zeichen einzuführen, sagt Blatter. Dies sei bislang aber nicht möglich, weil die Einschränkung als eigenständige Behinderung noch nicht offiziell anerkannt sei: »Dafür setzen wir uns im Moment politisch stark ein.«

Problematisch sei für die Betroffenen auch die Ausgrenzung aus dem Erwerbsleben. Diese Erfahrung musste Blatter selbst machen. Aufgrund seiner zunehmenden Sehstörung wurde der ausgebildete Industriekaufmann und studierte Betriebswirt im Alter von 43 Jahren frühverrentet. »Das wollte ich gar nicht«, betont er. Um mit seiner Einschränkung weiterhin berufstätig sein zu können, wäre jedoch Unterstützung nötig gewesen: »Sonst kann man die Leistung nicht erbringen.« Die meisten Arbeitgeber seien aber nicht bereit, Hilfsmittel wie etwa Computer für Sehbehinderte anzubieten.

Sprengers »Loch« war nicht so tief

Der Ausstieg aus dem Beruf bedeute für viele Betroffene einen großen Einschnitt und führe oft in die soziale Isolation, berichtet Maciol. Doch es gibt Auswege. »Bei mir war das Loch, in das man fällt, nicht so tief«, sagt Sprenger.

Geholfen haben ihm regelmäßige Besuche im Fitnessstudio. Diese könne man als Hörsehbehinderter auch ohne Hilfe nutzen, erklärt er. Sein Einsatz im Sport ging sogar so weit, dass er 1989 den fünften Platz bei der Deutschen Bodybuilding-Meisterschaft errang. »Ich war der erste Hörsehbehinderte, der dort auf der Bühne stand«, sagt er stolz. Auch privat brachte ihm sein Hobby Glück. Im Fitnessstudio lernte Sprenger seine spätere Ehefrau kennen. Er ist seit fünf Jahren verheiratet.

Wichtig: soziales, verlässliches Umfeld

Auch Blattert lässt sich durch seine Behinderung nicht die Lebensfreude nehmen. Im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung ist er beim Arbeitersamariterbund (ASB) in der Verwaltung tätig und erstellt unter anderem Statistiken. Dort habe er einen Computer, mit dem das Monitorbild großformatig an die Wand projiziert werde, erklärt er: »Damit kann ich arbeiten.« Viel gibt ihm außerdem sein ehrenamtlicher Einsatz in den Selbsthilfegruppen. Doch auch seine Freizeit kann Blattert genießen. »Im Sommer sitze ich oft in den Cafés im Glockenbachviertel«, erzählt er. Die renaturierte Isar nutzt er für lange Spaziergänge. Anzutreffen ist Blattert aber auch bei großen Veranstaltungen wie etwa dem Open-Air-Kino am Königsplatz oder der Konzertreihe Klassik am Odeonsplatz. Allerdings, räumt er ein: »Ohne Unterstützung geht das nicht.« Wichtig sei, sich ein verlässliches, soziales Umfeld zu schaffen. Dann jedoch könne man auch mit der Behinderung ein lebenswertes Leben führen. Julia Stark

Artikel vom 06.05.2014
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