Stadt Erding richtet eigene Stelle für Wissenschaft ein

Erding · Archäologisch wertvoll

Grabungsleiter Ulrich Schlitzer zeigt den Plan der zu sichernden 60 archäologisch relevanten Funde in Langengeisling.		Foto: bb

Grabungsleiter Ulrich Schlitzer zeigt den Plan der zu sichernden 60 archäologisch relevanten Funde in Langengeisling. Foto: bb

Erding · Vor wenigen Wochen ist es wieder mal passiert: im Zuge eines privaten Bauvorhabens konnten Mitarbeiter des Archäologischen Arbeitskreises am Museum Erding bei einer Grabung im Reiherweg in Langengeisling über 60 archäologisch relevante Funde sichern: …

… Pfostengruben ehemaliger, einst in Holz und Lehm in Fachwerkbauweise errichteter Häuser, Abfallgruben und zwei Gräber - vermutlich frühmittelalterliche Bestattungen von einem Mann sowie eines Kleinkindes. Doch was geschieht mit den Exponaten? Sind sie erst einmal dokumentiert, liegen sie oft Jahrzehnte in Kellern und Regalen, ohne wissenschaftlich ausgewertet oder gar in Ausstellungen und Schriften der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden. Das soll sich jetzt ändern! Unter dem Projekttitel „Erding im ersten Jahrtausend“ werden ab Januar 2013 jährlich 50.000 Euro und eine Haushaltsstelle bei der Stadt eingerichtet.

Was das Herz von Archäologen und Altertumsfreunden höher schlagen lässt, das ist der Alptraum für jeden Bauherren in und um Erding. Denn als „Veranlasser“ verpflichtet das Denkmalschutzgesetz den Bauherren, anfallende Ausgrabungskosten zu tragen. So war im Herbst 2011 im Vorfeld der Bebauung der Sebastian-Vielhuber-Straße ebenfalls eine frühmittelalterliche, also bajuwarische Grabgruppe aus dem siebten Jahrhundert entdeckt worden. Sie hatte sich unter einem alten, nicht unterkellerten Bauernhof bis heute erhalten. Wissenschaftlich besonders interessant waren die Funde aus dem Jahr 1995 aus dem Erdinger Süden in Aufhausen-Bergham. In einem Schachtgrab wurden ein Sattel gemeinsam mit Reitgeschirr und den Skeletten einer Frau und eines Maultieres gefunden.

Der herausragendste Fund aber war das „Kletthamer Gräberfeld“: In den Jahren von 1965 bis 1973 wurde hier eines der größten frühmittelalterlichen Reihengräberfelder Bayerns aus der Zeit von 460 bis 720 nach Christus zu Teilen archäologisch untersucht. Dieses Bodendenkmal erwies sich von höchster Qualität und hielt völlig neue Erkenntnisse über die Geschichte der bayerischen Stammesbildung bereit. An der Ecke Merowinger/Moosinninger Straße erinnert heute auch eine Infotafel daran.

„Erding ist gesegnet mit archäologischen Schätzen, ein herausragender Ort“, meinte Vize-Bürgermeister Ludwig Kirmair in der Sitzung des Verwaltungs- und Finanzausschusses. „Doch diese Schätze dürfen nach der Ausgrabung eben nicht sauber verpackt im Museum verschwinden, sondern müssen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.“ Daher beschloss man nun unter dem Titel „Erding im ersten Jahrtausend“ nicht nur 50.000 Euro für Praktika, Diplom-, Magister- und Doktorarbeiten sowie wissenschaftliche Publikationen zur Verfügung zu stellen, sondern auch eine entsprechende Haushaltsstelle im Rathaus. Drei Einrichtungen sind an dem Kooperationsprojekt beteiligt: Das Institut für vor- und frühgeschichtliche Archäologie und provinzialrömische Archäologie der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München mit seinem Leiter Bernd Päffgen, das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege mit Jochen Haberstroh und das Museum in Erding. Impulsgeber war der Erdinger Archäologe Harald Krause, der als freier Mitarbeiter das neue Konzept für die archäologische Abteilung im Erdinger Museum erstellte und Vorstand des Archäologischen Vereins Erding (AVE) ist.

Jakob Mittermeier (CSU) lobte zunächst Krause und seine vielen ehrenamtlichen Mitstreiter. „Ihnen und Ihrem langjährigen Engagement hat es die Stadt zu verdanken, dass die Archäologie und die damit verbundenen Baustopps ihren Schrecken verloren hat. Heute ist die kulturelle Bedeutung in das öffentliche Bewusstsein getreten, stößt man auf großes Verständnis in der Bevölkerung und im Stadtrat dafür. Das sieht man auch an den gut besuchten Exkursionen, Radtouren ins unterirdische Erding oder Ausgrabungsbesuchen des AVE.“. Krause wiederum warb erneut um Verständnis für seine Arbeit und das Projekt: „Der Boden rund um Erding ist voller Geschichte. Vier Fünftel unserer Geschichte würden wir aber verlieren, wenn wir auf Ausgrabungen verzichten. Die Stadt Erding kann sehr stolz sein und sich geehrt fühlen, so einen tollen Partner gewonnen zu haben“, charakterisierte Krause den LMU-Professor Päffgen, der das Projekt von wissenschaftlicher Seite betreut. Wurde bei einem privaten Bauvorhaben etwas archäologisch Wertvolles gefunden, muss der Bauherr zwar für die Grabungskosten bezahlen. Der wird aber so auch Eigentümer der Funde. „Hier schließen wir fast immer Verträge mit den Eigentümern ab, dass sie die Funde und das Eigentum dem Museum Erding übertragen“, berichtete Bürgermeister Max Gotz. Das geschah so mit den Funden im Gewerbegebiet West (Funde römischer Spätantike) und des Gewerbegebiets Süd (Funde Völkerwanderungszeit und Frühmittelalter).

Wie wichtig die Einrichtung einer solchen Stelle ist, die auch über entsprechende finanziellen Mittel verfügt, das erläuterte Professor Päffgen: „Die Fundstücke aus Aufhausen-Bergham, wo 1995 aus einem Schachtgrab ein Damensattel gefunden wurde, gemeinsam mit Reitgeschirr und den Skeletten einer Frau sowie eines Maultieres, wurden mit hohem zeitlichem und finanziellem Aufwand konserviert und restauriert. Doch dazu gibt es eine dünne Publikation, eine weitergehende wissenschaftliche Aufarbeitung erfolgte trotz des herausragenden und seltenen Fundes nicht. Zu den absolut außergewöhnlichen Funden des Kletthamer Gräberfeldes gibt es keine wissenschaftliche Auswertung! Hier können Studenten und Lehrstühle aus ganz Europa nun endlich tätig werden.“

Die Erkundung der reichen archäologischen Hinterlassenschaft in Erding verlange nach einem weitergreifenden Gesamtkonzept, das nicht nur wie bisher auf die Durchführung von Grabungen ausgerichtet sein dürfe, sondern auch die wissenschaftliche Auswertung zu berücksichtigen habe. „Dafür hat bislang das Geld und das Personal gefehlt. Da sehe ich ein großes Potenzial, gerade auch angesichts der Pläne mit den vielen Neubaugebieten, dem S-Bahn-Ringschluss, der Nordumfahrung oder dem heutigen Fliegerhorst-Gelände. Bisher liegt nur 18 Prozent der Geschichte Erdings in Schriftform vor, die restlichen 82 Prozent dürfen wir nicht verloren gehen lassen“, sagt Harald Krause unter der Zustimmung des Stadtrates. „Mit dem Altenerdinger Gräberfeld zählt die Stadt zu den archäologisch bedeutsamsten Orten Europas, wenn es um die Erforschung des ersten Jahrtausends nach Christus geht. Künftig kann diese Forschung auch in Erding betrieben werden!“ bb

Artikel vom 08.11.2012
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