Eine nonkonformistische Institution

Schwabing · Das Rationaltheater in Schwabing

Brachte Schernikau auf die Bühne des Rationaltheaters: Gesche Piening.   Foto: Kilian Senft

Brachte Schernikau auf die Bühne des Rationaltheaters: Gesche Piening. Foto: Kilian Senft

Schwabing · Das Münchner Rationaltheater ist eine Jahrzehnte alte subkulturelle Institution in Alt-Schwabing. An diesem Ort, nahe der Münchner Freiheit, wurde ein Stück deutsche Theater- und Kabarettgeschichte geschrieben.

Der Schauspieler, Autor und Volkswirt Reiner Uthoff hat das kleine Theater 1965 mit Horst Reichel und Ekkehart Kühn aus der Taufe gehoben. Neben den Gründern haben hier so bekannte Autoren wie beispielsweise Alf Brustellin, Heinar Kipphardt, Hanns Christian Müller, Bernhard Sinkel, Günter Wallraff und Martin Walser Arbeiten zur Aufführung gebracht. Kabarettisten wie Jochen Busse, Bruno Jonas und Sigi Zimmerschied standen im Rationaltheater auf der Bühne. Dazu Künstler wie Ingrid Caven, Otto Sander und viele andere – das Haus steckt voller legendärer Namen.

Mit Edgar Reitz und Ula Stöckl etablierte Uthoff ein alternatives Filmkino im Theater und zeigte auch gerne mal Werke, die der damaligen „bayerischen Verordnung für eine saubere Leinwand“ zuwiderliefen. Zwei Beamte der Polizeiinspektion Schwabing sollen deshalb lange Zeit zum treuesten Publikum der Theaterkneipe gehört haben. Was im Rationaltheater auf Bühne und Leinwand kam, war nonkonformistisch und scheute keine Auseinandersetzung. Die Folge waren mehr als 60 Strafverfahren wegen Gotteslästerung, Beschimpfung des Staatsoberhauptes und anderer Delikte, die heute im deutschen Strafgesetzbuch überwiegend nicht mehr zu finden sind. Das Rationaltheater erlangte mit seinem gesellschaftskritischen Programm bundesweite Bekanntheit. Im Gästebuch finden sich prominente Signaturen wie die von Herbert Wehner, Willy Brandt, Rudolf Augstein, Günter Grass.

Nach einer zehnjährigen Pause, in der das Haus geschlossen war, führt heute der Filmemacher und Produzent Dietmar Höss das traditionsreiche Theaterunternehmen in der Hesseloher Straße fort. Die Räumlichkeiten sind weitgehend unverändert geblieben. Die Technik ist auf dem neuesten Stand. Die Philosophie bleibt den Gründern verpflichtet: Engagierten Künstlern, die abseits des Mainstream agieren und mit ihren Veranstaltungen ein kritisches Publikum erreichen, soll die Bühne gehören. Ein Zuhause für den popkulturellen Untergrund der Stadt.

Exemplarisch für das ungewöhnliche Programm des Rationaltheaters steht ein literarischer Abend, den die Münchener Schauspielerin und Regisseurin Gesche Piening mit Dramaturg Peter Punckhaus konzipiert und hier im Oktober vor vollem Haus auf die Bühne gebracht hat. „ich könnte heulen, daß ich frei bin“ – eine Lesung zum 20. Todestag des Schriftstellers Ronald M. Schernikau. Schernikau gelang 1980, noch vor seinem Abitur in Lehrte bei Hannover, ein erster literarischer Erfolg. Die „Kleinstadtnovelle“ – eine autobiografisch geprägte Erzählung über ein Coming-out in der Kleinstadt – ist heute ein Klassiker der schwulen Literatur. Die Verlagslektoren hielten das Geburtsdatum des Autors (11. Juli 1960) damals für Fiktion.

Im selben Jahr zog Schernikau nach West-Berlin, wo er Germanistik, Philosophie und Psychologie studierte, ehe er ans Institut für Literatur Johannes R. Becher in Leipzig gelangte. Im Mai 1988 legte er dort seine Abschlussarbeit vor, die später unter dem Titel „Die Tage in L.“ veröffentlicht wurde. 1989 erwarb Ronald M. Schernikau die Staatsbürgerschaft der DDR und fand sich kurz darauf prompt in einer noch größer gewordenen BRD wieder. Schernikau starb am 20. Oktober 1991. Seine Außenseiterposition als Schwuler und Kommunist durchzieht das komplette schmale Werk Schernikaus. Das Leben in den unterschiedlichen politischen Systemen und die kritische Beschreibung seiner Erfahrungen in beiden deutschen Staaten, vermitteln Eindrücke jenseits bekannter Stereotype und standardisierter Feindbilder.

Auf die schwarze Bühnenrückwand des Rationaltheaters ist eine wandhohe Notiz in weißer Maschinenschreibschrift projiziert. Mit durchgestrichenen und handschriftlich überarbeiteten Zeilen. Es ist ein Hilfegesuch Schernikaus, das dieser auf einem Zettel verfasst hatte: „ich bin homosexuell und links, und ich schreibe romane. davon kann ich nicht leben.“ Der Autor bittet darin um Geld und eine Wohnung „um die ich mir keine gedanken machen muß“.

Auf der Bühne stehen zwei einfache Holzpulte mit Leselampen, an denen die Vortragenden sitzen. Gemäß der Schernikauschen Selbstzuschreibung „bin weiblich, bin männlich, doppelt“, ist der Textvortrag auf eine Vorleserin und einen Vorleser verteilt. Neben Gesche Piening liest der Schauspieler Oliver Mallison von den Münchner Kammerspielen. Die beiden tragen Auszüge aus der „Kleinstadtnovelle“ und „Die Tage in L.“ vor und vermitteln damit ein Bild vom erzählerischen und essayistischen Werk des Autors.

Der kleine Theaterraum ist voll mit Besuchern. Bier wird über der Tresen geschoben. Ausverkauft meldet die Kasse. Trotzdem ist es nach Beginn mucksmäuschenstill still; kein Flüstern, kein Räuspern, kein Gescharre mit den Füßen ist zu hören. Die Vortragenden verleihen den literarischen Texten Roland M. Schernikaus einen Ausdruck, der die Zuhörer vom ersten Moment an fesselt. Piening und Mallison lesen mit ruhiger Stimme und ohne Mikrofon. Sie beherrschen die Kunst der Zwischentöne, spüren der dialogischen Struktur der Texte nach, verzichten dabei aber auf eine allzu theatralische Interpretation des Geschriebenen. Das tut den Worten Schernikaus gut, die im Vortrag einen Grad an Progressivität und Witz offenbaren, der verstehen lässt, weshalb das schmale Werk auch zwanzig Jahre nach dem Tod des Autors nicht vergessen ist. Ein bemerkenswerter literarischer Abend in einem ganz und gar bemerkenswerten Theater.

Münchner Rationaltheater, Hesseloher Straße 18, 80802 München.
Programm: www.rationaltheater.de

Kilian Senft

Artikel vom 10.11.2011
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