Interview mit Andrea Sailer, Berufspädagogin beim Fanprojekt München

„Das Stadion ist das größte Jugendfreizeitheim“

Fanprojekt-Pädagogin Andrea Sailer. Foto: Anne Wild

Fanprojekt-Pädagogin Andrea Sailer. Foto: Anne Wild

München · Seit 1995 leisten die Mitarbeiter des Fanprojekts München sozialpädagogische Fanbetreuung für junge Anhänger des TSV 1860 und des FC Bayern. Das Projekt ist an der Schnittstelle zwischen Fans, Vereinen und Behörden angesiedelt und wird gemeinsam vom Stadtjugendamt der Landeshauptstadt München und der Arbeiterwohlfahrt München getragen. Die Münchner Wochenanzeiger sprachen mit Berufspädagogin Andrea Sailer über ihre Arbeit.

Frau Sailer, ich gebe zum Auftakt gleich mal den Advocatus Diaboli: Fußballfans aus der Kurve sind laut, besoffen, machen ständig Ärger, verwüsten öffentliche Verkehrsmittel, schlägern rum, sorgen für teure Polizeieinsätze und jeder Steuerzahler-Cent, den man diesen halbstarken Idioten auch noch über Fanprojekte zukommen lässt, ist einer zuviel. Schluss mit der Kuschelei.

(Andrea Sailer grinst) Das kann ich auch: Journalisten sind arbeitsscheu, recherchieren schlecht oder gar nicht, lassen sich von PR-Leuten kaufen und sind nur auf heiße Schlagzeilen aus – die Wahrheit interessiert sie einen feuchten Kehricht. Was Journalisten Artikel nennen, stricken sie grob aus Pressemitteilungen und dem Internet zusammen. Am liebsten bedienen sie ohne Umschweife die Ressentiments ihrer Leser. Das bringt Auflage. Genug der Klischees?

Gut gegeben. Lassen Sie uns ernsthaft über Ihre Arbeit sprechen. Seit wann sind Sie beim Fanprojekt und was ist Ihre Aufgabe dort?

Das Fanprojekt gibt es seit 1995. Ich bin seit 2004 dabei und damals als Berufspädagogin innerhalb der Arbeiterwohlfahrt zum Fanprojekt gewechselt. Meine Aufgabe ist insbesondere die Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen zwischen 15 und 27 Jahren. Darüber hinaus erledige ich viele administrative Aufgaben für das Fanprojekt. Unsere Hauptaufgabe liegt in der Förderung einer positiven Fankultur. Dazu gehören Maßnahmen zur Gewaltprävention, Hilfe zur Selbstorganisation der Fans, Unterstützung für jugendliche Fans in Problemlagen, Anti-Diskriminierungs-Arbeit und die Kommunikation zwischen verschiedenen Parteien – Fans, Vereine, Ordnungsdienst, Polizei und Politik. Grundlage unserer Arbeit ist das sogenannte „Nationale Konzept für Sport und Sicherheit“. Jungen Fußballanhängern machen wir verschiedene Angebote – bei 1860 die Nutzung eines Fanheims. Das Fanheim ist in unserer Obhut, wird aber von seinen Nutzern weitgehend selbst verwaltet. Das ist ähnlich wie in einem Jugendzentrum organisiert – in unserem Fall für Fußballfans. Zudem steht an Wochenenden der Münchner Streetwork-Bus bereits einige Stunden vor Spielbeginn vor dem Stadion. Der Bus ist ein Kristallisationspunkt für Fans. Wir suchen dort das Gespräch, insbesondere mit der Ultra-Szene. Das größte Jugendfreizeitheim am Wochenende ist nun mal das Stadion.

Sind sie selbst Fußballfan?

Na klar, sonst kannst du den Beruf gar nicht machen. Eine Werkstatt kann auch keinen KFZ-Mechaniker brauchen, der sich nichts aus Autos und Motoren macht. Ein Grundverständnis für das was Fans begeistert und beschäftigt muss schon da sein. Der Zugang kann nur emotional passieren. Rein über die theoretische Schiene lässt sich das schwer erschließen.

Bayern oder 1860?

Das ist für meinen Job nicht von Belang – da bin ich Profi (lächelt). Ansonsten schlägt mein Herz für die Löwen. Ich komme aus einer fußballbegeisterten Familie. Vater Bayern-Fan und meine Mutter glühende 1860-Anhängerin. Als Mädchen durfte ich selbst Fußball im Verein spielen. Später kamen Handball, Volleyball und Schwimmen dazu. Ich liebe Sport.

Treten Mädchen und Frauen überhaupt in Fußballfankreisen nennenswert auf? Von außen betrachtet wirkt das oft wie eine streng abgeschirmte Welt für junge Männer.

Das ist überwiegend auch so, bedeutet aber nicht, dass hier Frauen nicht existieren würden. Bei den Bayern-Fans zum Teil in organisierter Form, bei 1860 eher informell. Wo junge Männer einen Großteil ihrer Freizeit verbringen, sind immer auch junge Frauen zu finden. Außerdem sind die Spieler als Idole für Frauen attraktiv.

Unterscheiden sich weibliche von männlichen Fußballfans in ihrem Verhalten?

Im Verhalten schon, in der Leidenschaft für den Fußball und den Verein sicher nicht. Gewaltprävention ist bei jungen Frauen jetzt nicht so das große Thema. Mädchen und junge Frauen sind häufig geradliniger in ihrem Lebensweg.

Spielen Jugendliche mit Migrationshintergrund eigentlich eine Rolle in der Fanszene der Münchner Vereine?

Es gibt sie, aber sie treten aktiv kaum in Erscheinung. Von wenigen Ausnahmen abgesehen. Und zwar weder bei Bayern noch bei 1860. Ich habe dafür keine Erklärung. Ich stelle nur fest, dass es so ist.

Was sagen Sie zum Stereotyp vom asozialen Fußballproleten?

Das ist ein Vorurteil. Gerade in München. Viele Kurvenfans haben einen relativ hohen Bildungsgrad und keine schlechten Berufe. Das gilt für beide Vereine. Das „Fußball-Asso“-Sein ist bei den Löwenfans oft auch eine Attitüde, um sich vom vermeintlich studentischen Milieu der Bayernfans rund um die Schickeria abzugrenzen. Aber letztlich nimmt sich das bildungsmäßig nicht viel. Jugendliche aus finanziell schwierigen Verhältnissen sehen wir hier eher selten. Für sie wäre das Hobby Fußballfan auch schlicht zu teuer. Fußballwochenenden gehen ins Geld.

Erleben Sie eine Zunahme von Fangewalt?

Nein. Das kann man so pauschal nicht sagen. Gegenüber früheren Zeiten – etwa die späten 70er, 80er bis Anfang der 90er Jahre – hat das sogar spürbar abgenommen. Hier wirkt die Arbeit der Fanprojekte und die vielfältigen Bemühungen von Kommunen, DFB, DFL und den Vereinen. Das ist meine subjektive Wahrnehmung. Das gilt speziell für die Verhältnisse in München. Da mag es bundesweit regionale Unterschiede geben, aber ich halte das im Grunde für einen allgemeinen Trend. Natürlich gibt es immer wieder auch Probleme und Fans, die gewaltsuchend sind. Aber keineswegs in außergewöhnlichem Umfang.

Wenn man Zeitungen liest und Fernsehen sieht, wirkt das oft anders.

Mag sein. Was sich in den genannten Zeiträumen sicher verändert hat, ist die Art und Weise der medialen Aufbereitung einzelner Vorfälle. Das Medienangebot beträgt heute ein Vielfaches früherer Zeiten. Die Reaktionsgeschwindigkeit auf Ereignisse ist kürzer geworden. Dadurch fehlt mitunter die kritische Distanz. Der Wettbewerb unter den Medien ist härter. Auf der Jagd nach der neuesten Meldung, die dann natürlich auch möglichst schnell ins Informationsangebot eingespeist wird, kann schon mal die Sorgfalt und der Blick für die Realität verloren gehen. Professionelle Interessenvertreter, wie beispielsweise Polizeigewerkschafter, reagieren darauf und verfassen blitzschnell Pressemeldungen. Dazu schreiben die Medien wechselseitig voneinander ab. Eine heiße Meldung röhrt dann mit Getöse durch alle Medienkanäle. Gibt es später ein Dementi, umfasst es drei Zeilen und interessiert keinen mehr. So kann leicht der Eindruck entstehen, ein singuläres Ereignis würde einen Flächenbrand beschreiben.

Wie viele Fanprojekte gibt es bundesweit? Wer bezahlt deren Arbeit?

Ich glaube es sind aktuell 50. Finanziert wird die sozialpädagogische Arbeit der Fanprojekte durch Kommunen, die Bundesländer, den DFB und die DFL. Träger in München ist die Landeshauptstadt und die Arbeiterwohlfahrt München.

Wie ist ihr Verhältnis zur Münchner Polizei?

Professionell und von gegenseitigem Respekt getragen. Natürlich ist es nicht immer völlig konfliktfrei. Aber das ist normal. Das bringt der Job mit sich. In schwierigen Momenten hat man als Frau manchmal einen anderen Zugang zu den Beamten, wird nicht gleich als Bedrohung gesehen. An der Personalausstattung lässt sich übrigens gut ablesen, wo staatlicherseits der Schwerpunkt gesetzt wird. In München gibt es zwölf sogenannte szenekundige Beamte, die Fußballfans beobachten und viereinhalb Sozialarbeiterstellen, um sich um sie zu kümmern.

Die Zusammenarbeit mit den Vereinen, die letztlich Wirtschaftsunternehmen sind, ist positiv?

Hier darf ich nur für 1860 sprechen. Das hängt natürlich immer von den handelnden Personen ab, die auch mal wechseln. Aber da kann ich mich nicht beklagen. Ob das Ordner sind, der Stadionmanager oder die Fanbeauftragten des Klubs: wir finden in der Regel immer ein offenes Ohr und Verständnis für unsere Arbeit.

Interview: Alfons Seeler

Artikel vom 26.09.2011
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