Mit 57 Jahren erfährt Heimstettener, dass er eine Schwester hat

Heimstetten · Gesucht – gefunden!

Die Geschwister endlich glücklich vereint: Im Oktober hat Annemarie Enzmann ihren Bruder Richard Steiger zum ersten Mal besucht.	Foto: privat

Die Geschwister endlich glücklich vereint: Im Oktober hat Annemarie Enzmann ihren Bruder Richard Steiger zum ersten Mal besucht. Foto: privat

Heimstetten · »Wirst halt irgendwo ein Kind haben!«, scherzte Gisela Steiger, als der Brief des Stadtjugendamtes München im Briefkasten landete. Er war an ihren Mann Richard adressiert. Das Paar lebt seit Anfang der 90er-Jahre in Heimstetten.

Im Anschreiben der Jugendamtsangestellten hieß es: »Bei mir hat sich vor einigen Wochen Frau Annemarie Enzmann gemeldet mit der Bitte, ihr bei der Suche nach Halbgeschwistern behilflich zu sein. Frau Enzmann ist eine geborene Pfaunsch, sie ist im Jahr 1950 geboren worden. Frau Enzmann ist somit ihre ältere leibliche Schwester bzw. Halbschwester (...) Ich weiß nicht, ob sie jemals etwas von der Existenz einer älteren Halbschwester erfahren haben.« Richard Steiger wusste schon lange, dass er ein Adoptivkind war; seine Adoptiveltern hatten ihn sehr frühzeitig informiert. Leibliche Verwandte? Fehlanzeige! Er wusste von keinem einzigen, nicht mal Details über seine leibliche Mutter. Und dann das! Richard Steigers Frau Gisela hat acht Geschwister und er genoss das Familienleben sehr. Dass er selbst auch noch einmal seine Familie kennenlernen würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Ihm kamen die Tränen, und er kann auch jetzt seine Rührung nicht verbergen. »Sowas ist seltener als ein Sechser im Lotto!«

Dem Schreiben vom Jugendamt lag ein Brief seiner Schwester bei. »Lieber Richard, du wirst dich wundern, heute von einer Unbekannten einen Brief zu bekommen, doch ich weiß, dass ich einen Bruder habe, der adoptiert wurde, und das Stadtjugendamt München hat mir nun geholfen, dich zu finden (...) Mein innigster Wunsch ist es seit meiner Jugend, meinen ›unbekannten Bruder‹ kennenzulernen.« Sie berichtete, dass sie in Villingen-Schwenningen wohne, dass sie Witwe sei und zwei Kinder, Markus (30) und Corinna (27), habe. Zur Schwester auch noch Neffe und Nichte – es kam immer besser!

Richard Steiger griff sofort zum Telefon und rief seine Schwester an; sie telefonierten eine halbe Stunde miteinander, und auch da flossen bei beiden die Tränen. Er versprach erste Fotos zu mailen – ein Treffen wurde ausgemacht. Der »frischgebackenen« Nichte Corinna ging das nicht schnell genug. Auch sie rief an und wäre am liebsten noch am selben Tag gekommen. Gisela Steiger: »Sie war die treibende Kraft bei der Suche, wenn es mal nicht weiterging.« 14 Tage später kam es dann zur Familienzusammenführung: ein Tag der Freude und Emotionen. »Wir mussten hinterher eine Stunde das Wasser aufwischen«, lacht Richard Steiger.

Bei der Schilderung der Familiengeschichte offenbart sich auch ein Frauenschicksal der 50er-Jahre. Die Mutter der beiden, Anna Pfaunsch, hatte die Kinder unehelich bekommen, eine Schande in der damaligen Zeit. Ihre Eltern wollten mit der Tochter nichts mehr zu tun haben; auch um die Enkeltochter kümmerten sie sich nicht. Das kleine Mädchen Annemarie wuchs bei Onkel und Tante in Furth im Wald auf, sie behandelten sie nicht gut. Als die Tante schließlich selbst Kinder bekam, wurde Annemarie in ein Kinderheim nach Kochel gebracht – keine glückliche Kindheit.

Leibliche Mutter nahm sich das Leben

Mit einem Positiven: Im Heim konnte sie zufällig in Unterlagen von der Existenz eines Bruders mit Namen Richard und dem Geburtsort München lesen – ohne diese Angaben würden Bruder und Schwester noch heute nichts voneinander wissen. Bruder Richard hatte es besser getroffen. Seine Adoptiveltern liebten ihn sehr und waren ihm gute Eltern. Die 88 Jahre alte, sehr rüstige Mutter Maria Steiger lebt im Haus ein Stockwerk über ihrem Sohn und seiner Frau. Dass seine leibliche Mutter Anna, die als Hauswirtschafterin in München gelebt hatte, noch im Jahr seiner Geburt mit 31 Jahren gestorben war, erfuhr Richard erst jetzt von seiner Schwester. Zum ersten Mal weiß er überhaupt, wie sie aussah. Er hält ihr Foto in Händen: »Sie hat sich mit Salzsäure selbst getötet.«

Vom Vater oder den Vätern ist nichts bekannt. Dass sie wahrscheinlich »nur« Halbgeschwister sind, ist den beiden egal. »Schwester ist Schwester«, so Richard Steiger. Jetzt telefonieren sie zwei- bis dreimal pro Woche miteinander, und an Weihnachten ist ein Gegenbesuch geplant. Die beiden haben viel nachzuholen. Gabriele Heigl

Artikel vom 09.11.2010
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