Gerlinde Wouters über Glück, Hände, Hürden und Corona

München · "Aus der Krise lernen"

"Bürgerschaftliches Engagement, das sind viele Hände und Köpfe und Herzen, die die Daseinsvorsorge der Stadt sinnvoll ergänzen und erweitern", meint Gerlinde Wouters. Foto: job

"Bürgerschaftliches Engagement, das sind viele Hände und Köpfe und Herzen, die die Daseinsvorsorge der Stadt sinnvoll ergänzen und erweitern", meint Gerlinde Wouters. Foto: job

München · Zahlreiche Menschen in München setzen sich freiwillig für Andere ein. FöBE, die Förderstelle für Bürgerschaftliches Engagement, unterstützt solches Engagement. Wie haben die Corona-Pandemie und die nötigen Einschränkungen diesen Zusammenhalt beeinflusst? Gerlinde Wouters, die seit 2008 die FöBE leitet, beantwortete dazu Fragen von Johannes Beetz.

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Wochenblatt: In Alltag, Schule, Beruf und Gesellschaft ist heuer vieles durch Corona und die deshalb nötigen Einschränkungen einfach mal weggefallen. Was schmerzt Sie im Hinblick auf das bürgerschaftliche Netz unserer Stadt da am meisten? Wie sind die Rückmeldungen der Einrichtungen und engagierter Menschen?

Gerlinde Wouters: Am schmerzhaftesten war es für die Freiwilligen, die sich als Schülerpaten engagieren und wussten, wie wichtig ihre Hilfe für die Bildungschancen der Schüler und Auszubildenden sind. Sie waren durch das Betretungsverbot der Schulen enorm blockiert und hatten Mühe, andere Wege zu ihren Schützlingen zu finden. Gleiches gilt für diejenigen, die alte Menschen in Senioreneinrichtungen besuchen oder als Demenzhelfer aktiv sind. Sie kennen aus erster Hand die Einsamkeit der alten Menschen oder die Überlastung von Familien, die dementiell Erkrankte betreuen und waren ganz einfach blockiert.

"Sie lassen sich durch Corona nicht bremsen"

Andererseits war gerade während des Lockdowns besonders viel Hilfe gefragt, die sehr zügig und spontan insbesondere über bürgerschaftliche Netze geleistet werden konnte. Welche Rolle konnte bürgerschaftliches Engagement in dieser Situation übernehmen?

Wouters: Wir haben hier in München Glück, denn mit dem Verein „Münchner Freiwillige - wir helfen“ und den im ganzen Stadtgebiet angesiedelten Nachbarschaftstreffs gibt es konkrete Anlaufstellen für Spontanhilfe. Es meldeten sich zum Beispiel 7.000 Helfer bei den Münchner Freiwilligen, um einzukaufen, zur Apotheke oder Post zu gehen und um Kontakt zu halten, wenn jemand isoliert war. Über die Nachbarschaftstreffs entstanden Spazierpatenschaften, Schulmaterial wurde ausgedruckt und verteilt, für systemrelevante Berufe wurde gekocht und die Tafellebensmittel wurden nach Hause gebracht.
Bürgerschaftliches Engagement, das sind viele Hände und Köpfe und Herzen, die die Daseinsvorsorge der Stadt sinnvoll ergänzen und erweitern und so die Krise erträglicher und menschlicher machen. Die Stadt war aber auch schnell und vor allem gut zu erreichen, wie zum Beispiel das Sozialreferat, das Menschen in akuter Not half und Lebensmittelgutscheine über die Sozialbürgerhäuser ausgab.

Corona hat unsere Wahrnehmung nachhaltig beeinflusst: Plötzlich beginnen mehr Menschen als zuvor eine Ausbildung etwa in Pflegeberufen. Hat sich angesichts der Pandemie unser Bewusstsein für das, was wirklich „systemrelevant“ ist, geändert?

Wouters: Das kann ich jetzt noch nicht beurteilen, da wir mehr den Sektor des freiwilligen Engagements überblicken. Zumindest einen Effekt hatte Corona: Personen in Kurzarbeit wandten sich in großer Zahl an die Freiwilligenagenturen, mit dem Wunsch, jetzt etwas Sinnvolles tun zu wollen. Vielleicht ergeben sich daraus auch geänderte berufliche Perspektiven.

Die Felder, auf denen Menschen sich bürgerschaftlich engagieren, wandeln sich mit der Zeit. Vor der Corona-Krise legte alles an Attraktivität zu, was mit Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu tun hat. Hat Corona neue Trends gesetzt oder Impulse gegeben?

Wouters: Als Beispiel möchte ich die neu aufgesetzten „Hofkonzerte“ erwähnen. Über die Stiftung Gute Tat und Caritas meldeten sich viele Musiker, die umsonst in Pflege- oder Senioreneinrichtungen draußen für die Bewohner spielten. Das war keine Eintagsfliege, sondern wird weiter fortgeführt. Trotz alledem geht aber das Engagement für Nachhaltigkeit kontinuierlich weiter: Fridays for Future, München muss handeln, Rehab Republic, GreenCity und viele, viele mehr in unserer Stadt lassen sich durch Corona nicht bremsen.

Gerade bei bürgerschaftlichem Engagement ist der echte, persönliche Kontakt zwischen Menschen für beide Seiten unverzichtbar. Das zeigt sich ja schon an den große Besucherzahlen Ihrer Freiwilligenmesse. Wie gehen Sie damit um, dass diese entscheidenden Kontakte nach wie vor nur eingeschränkt möglich sind?

Wouters: Es war erstaunlich, wie schnell sich Freiwillige digitale Wege eroberten und kreativ Brücken zu ihren Schützlingen aufbauten. Telefonfreundschaften seien als Beispiel genannt, die es in diesem Umfang bis dato nicht gab. Dort wo bereits Beziehungen bestanden, konnten sie auf neuen Wegen verstetigt werden. Neue Kontakte aufzubauen, ist digital problematischer. Trotz alledem gehen auch wir für die kommende Münchner FreiwilligenMesse online, denn eine Großveranstaltung mit 6.000 Besucher ist derzeit nicht vorstellbar.

"Es braucht dafür öffentliche Wahrnehmung"

Corona hat viele Menschen geängstigt. Auch manche absurde Angst bricht sich da Bahn und stellt letzten Endes gesellschaftliche Stabilität und Zusammenhalt infrage. Hilft bürgerschaftliches Engagement, in Krisenzeiten auf dem Boden zu bleiben?

Wouters: Ich denke, ja. Wenn ich erlebe, wie schwer es alten Menschen fällt, ihre Isolation zu bewältigen, oder wenn ich mich in den Kliniken als Helfer gemeldet habe, dann gehe ich nicht gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße. Leider sind diese Demonstrierenden die „lauten“ und bekommen mediale Aufmerksamkeit. Erstere informieren und engagieren sich. Dafür bräuchte es auch eine entsprechende öffentliche Wahrnehmung.

2020 war ein schwieriges Jahr. 2021 wird vermutlich nicht einfacher werden. Eine der beliebtesten Traditionen unserer Stadt halten die Schäffler aufrecht. Sie haben in der Pandemie ihrer Zeit, der Pest, Mut gemacht. Sie haben die Menschen motiviert, nicht aufzugeben, sondern durchzuhalten und weiterzumachen. Das ist leichter gesagt als getan, aber steckt nicht gerade hinter vielem bürgerschaftlichen Machen und Tun genau dieser „Schäffler-Geist“?

Wouters: Danke für das Bild von den „Schäfflern“. Sie haben Recht, die Schäffler unserer Zeit sind die Freiwilligen, die sich nicht abhalten lassen und für Solidarität und Zusammenhalt stehen. Leider ist Corona ja auch so etwas wie ein Spaltpilz in unserer Gesellschaft und so wird es eine sehr wichtige Aufgabe in Zukunft sein, diesen Geist der Solidarität in der Öffentlichkeit zu zeigen und zu dokumentieren, dass die hilfsbereiten und überlegten Menschen in unserer Stadt die Mehrheit bilden.

Viele Menschen möchten sich nach wie vor für andere einsetzen. Gleichzeitig sind viele Lebensumstände weniger planbar geworden. Sprich: Manch einer, der heute eine Aufgabe übernehmen möchte, weiß einfach nicht, ob er dazu auch in drei oder vier Monaten noch in der Lage ist oder ob er coronabedingt beruflich oder familiär andere Prioritäten setzen muss. Viele bürgerschaftliche Engagements benötigen aber ein gewisses Maß an Verlässlichkeit. Was raten Sie Menschen, die in dieser Hinsicht jetzt unsicher geworden sind?

Wouters: Wir sind gerade dabei, mit den gemeinnützigen Organisationen zu erarbeiten, dass sie auch flexibles Engagement anbieten. Viele sind da schon auf einem ganz guten Weg. Deshalb möchte ich Interessierte ermutigen, bei den Organisationen, die sie vom Thema her ansprechen, nachzufragen, ob es möglich ist, sich auch erst einmal kurzfristig zu engagieren.

"Viele standen ohne Informationen da"

„Die Politik“ hat auf die Corona-Krise rasch reagiert und eine ganze Menge Hebel in Bewegung gesetzt, um die Situation im Griff zu behalten und den Schaden für die Menschen überschaubar zu halten. Da wurde viel Geld in die Hand genommen, aber es wurden auch neue politische Akzente gesetzt. Was wünschen Sie sich als „Sprecher“ für das bürgerschaftliche Engagement von der Politik – in Staat und Stadt – im Hinblick auf die Corona-Erfahrungen? Und was wünschen Sie sich von uns Bürgern?

Wouters: Von der Politik wünschen wir uns, dass sie die Vereine und das Bürgerschaftliche Engagement auch in ihren Vorschriften und Verlautbarungen berücksichtig, d.h. mehr kommuniziert, was machbar und erlaubt ist - und nicht nur, was gelassen werden soll. Denn es war schon ärgerlich, dass für den Sport alles bis ins Kleinste geregelt war, die übrigen Vereine und Initiativen erst einmal ohne Informationen dastanden. Dies haben wir als Münchner Netzwerk auch mit der Ehrenamtsbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung besprochen.
Wir wünschen uns zudem einen Schub in Richtung Digitalisierung, besonders für die Freiwilligen dieser Stadt, die auf diese neuen Kommunikationswege angewiesen sind und auch Projekte, die vor allem Senioren und Schüler z.B. in Flüchtlingsunterkünften als einfühlsame Paten unterstützen, die sich außen vor gelassen erleben.
Von den Bürgern unserer schönen Stadt wünschen wir uns, dass dieses Gefühl der Solidarität, die sich in der unglaublich hohen Bereitschaft spontan zu helfen ausdrückte, erhalten bleibt und sich nicht in ein Gegeneinander verwandelt. Aber wir haben 2015 die vielen Geflüchteten aufgenommen, es sind zahllose Patenschaften und ehrenamtliche Begleitungen bis heute aktiv und helfen den Neubürgern bei ihrer Integration. So werden wir auch diese Krise überstehen und aus ihr lernen.

Artikel vom 09.10.2020
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