Die Weisheit des Kindes

Bogenhausen · Die Weihnachtsbotschaft von Pfarrer Engelbert von der Lippe aus Heilig Blut

Pfarrer Engelbert von der Lippe aus Heilig Blut in der Scheinerstraße teilt seine Gedanken zum Weihachtsfest mit den Bogenhausern.		Fotos: ahi

Pfarrer Engelbert von der Lippe aus Heilig Blut in der Scheinerstraße teilt seine Gedanken zum Weihachtsfest mit den Bogenhausern. Fotos: ahi

Bogenhausen · Die Weihnachtsgeschichte nach Lukas zählt zu den bekanntesten Texten der Weltliteratur. Das Weihnachtsfest ist ungeheuer populär, auch der große nichtchristliche Teil unserer Gesellschaft feiert es. Das hat sicherlich mit nostalgischer Rührung zu tun.

Aber es lässt sich nicht nur mit sentimentalen Gefühlen erklären, auch nicht mit dem überbordenden und zuweilen peinlichen Kommerz. Es liegt eine tiefe Weisheit in diesem Fest, der man sich nur schwer entziehen kann.

Die Menschheit sehnt sich immer wieder nach einer starken Kraft, die Frieden und Gerechtigkeit schafft. Der starke Mann, der große Führer – viele haben versprochen, die Welt zu verbessern. Große Helden sind mit großen Idealen angetreten und haben große Scherbenhaufen hinterlassen. Alexander der Große, Nero, Hitler, Stalin – die Litanei der Scharlatane enthält viele Namen. Auch unsere Zeit fügt neue hinzu, auf allen Kontinenten. Mit großen Ideologien und starken Männern hat die Welt genug schlechte Erfahrungen gemacht.

Die Antwort Gottes auf die Sehnsucht der Menschen nach Frieden und Gerechtigkeit ist überraschend: Ein Kind. Ein schlichtes, einfaches, bedürftiges Menschenkind sendet er in die Welt. Und alle menschliche Erfahrung bestätigt: Ein Kind kann die Welt verändern, seine unbedarfte Weisheit kann sie faszinieren. Das ist die radikale Botschaft des Evangeliums. Es stellt die Mächtigen und die Mächte der Welt in Frage. Es macht starke, schlaue, große und mächtige Menschen lächerlich. Das kleine, nackte, schwache und hilflose Kind lässt die Heroen der Welt verblassen. »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so könnt ihr nicht in das Himmelreich gelangen.«

Das Evangelium der Heiligen Nacht ist eine Revolution. Das Gottesbild vieler Menschen ist geprägt vom allgewaltigen, ewigen und über die Natur hinaus mit Macht ausgestatteten Alleskönner. Dieses Bild von Gott wird nun radikal in Frage gestellt. Die Heilige Nacht zeigt einen ganz anderen, einen zutiefst menschlichen und verletzlichen Gott. Es ist der Gott der »compassion«, der Gott des Mitleidens. Er nimmt Anteil am Leben, Lieben und Leiden der Menschen. Er liefert sich selbst total dem irdischen Leben aus. Er wird Mensch mit Haut und Haaren. Ein Mensch mit allen Sinnen und Sinneserfahrungen. Er wird Mensch in all seinem Tun und Denken. Er wird Mensch unter Menschen und mit den Menschen. Der große starke Gott hat sich klein gemacht und ermutigt auch uns: Mach es wie Gott, werde Mensch.

Im Januar 2006 ist die deutsch-jüdische Dichterin Hilde Domin verstorben. Sie wurde sechsundneunzig Jahre alt. Eines ihrer Gedichte über Sinn und Ziel des Lebens heißt ganz schlicht »Bitte«.

Das Sehnen der Menschen nach Heil und Glück wird erfüllt, wenn die Tränengrenze überschritten wird, wenn Mitgefühl und Mitleid zu Tränen rühren. Es wird erfüllt, wenn der Zweig vom Ölbaum als Bote des Friedens und der Versöhnung zum Nachbarn, zum Nachbarstaat, zum Verfeindeten geschickt wird. Heil wird die Welt, wenn die Früchte aller Mühe und Arbeit so kostbar und wertvoll sind, wie es ihnen gebührt. Heil wird die Welt und damit das Leben, wenn das Vergängliche und das Vergangene wertgeschätzt werden. Heil wird die Welt, wenn wir aus der Flut, aus der Löwengrube, aus dem feurigen Ofen, wenn wir aus aller Not heraus entlassen werden.

Hilde Domin kennt die Sehnsucht des Menschen nach Heil und Heilung. Sie weiß um die Kraft des Lebens und vertraut ihr. Es ist das Vertrauen in die Kraft und die Macht des Menschgewordenen. Gott hat durch die Menschwerdung seines Sohnes großes Vertrauen in die Menschen bezeugt. So soll und kann ich, wie er, wahrhaft und wahrhaftig leben.

Aufrecht und ehrlich kann ich dem Anderen begegnen. So soll und kann ich, wie er, täglich Gerechtigkeit üben. Ich kann jedem die Wertschätzung entgegenbringen, die er verdient. So kann ich, wie er, die Liebe annehmen und weiterschenken. So kann ich tagtäglich die Freiheit erkämpfen, die Freiheit von Süchten, die Freiheit von Zwängen, die Freiheit von maßlosen Ansprüchen. So kann ich täglich Frieden schließen, Frieden mit meinen eigenen Schwächen, Frieden mit allen Vorurteilen, Frieden mit dem Nächsten. So kann ich, wie er, Mensch sein unter Menschen. Er ist Mensch geworden und hat mitten unter uns gewohnt. Engelbert von der Lippe

Artikel vom 20.12.2017
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