Das Oktoberfest im Wandel: Münchner Experte im Gespräch

München · Die Wahrheit über die Wiesn

„Ozapft is": Die Wiesneröffnung durch den amtierenden Oberbürgermeister findet seit 1950 in der Schottenhamel-Festhalle statt, das älteste Zelt auf dem Oktoberfest. Foto: „Die Wiesn“, Volk Verlag

„Ozapft is": Die Wiesneröffnung durch den amtierenden Oberbürgermeister findet seit 1950 in der Schottenhamel-Festhalle statt, das älteste Zelt auf dem Oktoberfest. Foto: „Die Wiesn“, Volk Verlag

München · Zu voll, zu derb, zu laut, zu teuer: Das Jammern über die Wiesn hat Tradition. „Die Klagen, dass das Oktoberfest immer mehr zum Fress- und Sauffest wird“, sagt Heinrich Ortner, „gab es schon vor hundert Jahren: …

Zum größten Volksfest der Welt: dem Oktoberfest

…Bereits 1910 verliehen Wiesnwirte ihren Gästen ein Diplom dafür, dass sie zehn Maß getrunken haben. 1920 gab es einen Stadtratsantrag gegen die Zahl der sinnlosen Betrunkenheit auf der Wiesn.“ Schon um die Jahrhundertwende habe der Augustinerfestwirt Liederbücher verteilt, um seine Gäste zum Singen und zu mehr Trinkkonsum zu animieren. Auch das „Prosit der Gemütlichkeit“ sei bereits 1912 etabliert gewesen – und von wegen, der wohl meistgespielte Wiesnhit ist ein uralter, echt bayerischer Trinkspruch! „Erfunden hat ihn ein Chemnitzer Kirchenmusiker“, weiß Heinrich Ortner, ein echter Wiesn-Kenner, der das weltgrößte Volksfest von kleinauf kennt.

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Trotzdem findet der Isarvorstädter das Thema alles andere als langweilig, sondern immer wieder spannend. Seit zehn Jahren bietet der gebürtige Münchner Wiesn-Führungen für die Münchner Volkshochschule. Und diesen Sonntag auch im Rahmen des Tags des offenen Denkmals am 11. September: Unter dem Motto „Ozapft werd“ veranstaltet er einen kostenlosen Rundgang über das Oktoberfestgelände. Treffpunkt ist um 10 Uhr an der Haltestelle Theresienwiese, Aufgang zur Festwiese. Am Dienstag, 27. September, 10 bis 12 Uhr, beschäftigt sich eine weitere Ortnerführung mit der Wiesnnostalgie: „Schichtl, Krinoline und Kettenflieger – mit Romantik hat das alles nichts (mehr) zu tun“. Bei dieser Führung stehen altbekannte Fahrgeschäfte im Mittelpunkt und deren Betreiber erzählen den Teilnehmern von ihrem turbulenten Leben und Arbeiten auf dem Rummelplatz. Treffpunkt ist am Haupteingang der Theresienwiese (am Mahnmal). Die Tour kostet 5 Euro.

Die Sehnsucht nach der guten alten Zeit ist stärker denn je. Im Südteil der Theresienwiese gibt es wieder ein abgetrenntes Areal, auf dem die Besucher in einem historischen Bierzelt und einem Musikzelt mit Tanzboden, bayerischer Livemusik und kulinarischen Schmankerl wie anno dazumal genießen können, heuer „Oide Wiesn“ genannt. Die Pferderennbahn von der Jubiläumswiesn jedoch wird es nicht mehr geben, dafür alte Fahrgeschäfte und nostalgische Attraktionen wie das Velodrom. „Die ,Historische Wiesn 2010 kam so gut an, weil sie das Gefühl vermittelte ,So war's früher!‘ Dabei hat's diese oide Wiesn doch so nie gegeben!“, meint Ortner und zitiert den Münchner Stadtanzeiger von 1912: „Wenn auch unser heuriges Oktoberfest ein Fest geworden ist, wie es kaum ein zweites in der Welt gibt, so schön ist‘s doch nimmer, wie es war. Die Gemütlichkeit hat der Pracht, der Herrlichkeit, dem Komfort und der Neuzeitlichkeit Platz gemacht. Die Bierpaläste sind ins Gigantische gewachsen und die „Bräurosl“ ist heuer gleich gar so gewachsen, dass man sich regelrecht darin verlaufen kann“.

Die Wiesn wie früher mag auch so mancher in Sachen Bierpreis vermissen: „Bis zu neun Euro heuer hört sich teuer an“, meint Ortner, „aber wenn man weiß, was an Kosten dahintersteckt, etwa im Vergleich zum Biergarten mit dem fast gleichen Preis bei viel weniger Aufwand. 1,5 bis 2,5 Millionen Euro kosten Auf- und Abbau pro Zelt. Allein acht Wochen dauert der Aufbau eines Wiesnzeltes und ist damit aufwändiger als jedes Fahrgeschäft.“ Nein, nein, er sei nicht „bestochen“ von Wiesnwirten oder Tourismusamt, versichert Ortner lachend. Aus seiner langjährigen Beschäftigung weiß er: „Da steckt mehr dahinter!“ Er sei einfach fasziniert von der perfekten Organisation und den hohen Sicherheitsstandards und sei privat etwa drei Mal beim Oktoberfest. Zu allen Tageszeiten, um sozusagen die Stimmung zu „inhalieren“, aber nicht in Tracht: „Ich bin kein Lederhosen-Typ“.

Die alljährliche Diskussion um schrille Dirndl und Turnschuhe zur Kurzen findet Ortner überflüssig: „Wir wollten damals auch auffallen, und als Jugendlicher hat man halt nicht das Geld für eine teure Tracht.“ Die Wiesn sei immer schon ein Riesenspaß gewesen – und das Rumgespinne, „das hört nach dem ersten Kind auf“, weiß Ortner. Auch die gängige Kritik, die Musik sei zu laut, „kenn ich seit 50 Jahren“, findet er. „Wir standen damals in den 60er- und 70er-Jahren auch schon auf den Bänken und haben die angesagten Schlager mitgegröhlt.“ Einen Wandel sieht Ortner aber im Verhalten der Wiesnbesucher: „Raufereien hat's schon zur Jahrhundertwende gegegeben, manche haben sich gar als Massenspektakel bis zum Marienplatz fortgesetzt, doch heute wird noch auf den am Boden liegenden Gegner brutal nachgetreten. Viele haben sich nicht mehr im Griff und kennen nicht ihre Grenzen. Kritisch sieht Ortner auch das „Vorglühen“ mit Alkohol oder seine Bierflaschen in der U-Bahn zurückzulassen. Das sei aber eigentlich „kein Wiesnproblem“, weiß Ortner. Dreck, Lärm, Müll: Damit seien die Bewohner des Kneipenviertels Isarvorstadt das ganze Jahr über konfrontiert.

Heinrich Ortner hat mit Rudolf Hartbrunner einen historischen Rundgang über das Oktoberfest geschrieben mit aktuellen Infos. „München-Mini: Die Wiesn“ ist gerade im Volk Verlag erschienen und kostet 7,95 Euro.

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Artikel vom 08.09.2011
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