TSV 1860 plant Testspiel gegen Newcastle United

Moralisch den Kompass verloren?

Berührt mit ethischen Fragen: Fans des TSV 1860 München. Foto: A. Seeler

Berührt mit ethischen Fragen: Fans des TSV 1860 München. Foto: A. Seeler

München/Giesing · Die Übernahme des Premier-League-Klubs Newcastle United durch ein Konsortium, an dem zu 80 Prozent der Staatsfond Saudi-Arabiens beteiligt ist, schlug 2021 nicht nur in England hohe Wellen. Knapp 350 Millionen Euro soll allein die Kaufsumme betragen haben. Die Herkunft des Geldes sorgt für reichlich Kritik. Durch den Einstieg der Saudis wurden die »Magpies« (dt. Elstern) über Nacht vom Kellerkind der Premier League zu einem Big Player im internationalen Fußballbusiness. Ihre Finanzkraft lässt sie in die Riege der Superreichen aufsteigen. Zum Ende seiner Vorbereitungsphase auf die neue Spielzeit will sich überraschend der Drittligist TSV 1860 München mit dem Newcastle United Football Club in einem Testspiel im salzburgischen Saalfelden messen. Das Vorhaben löst nicht bei allen Fans der »Sechzger« Begeisterung aus.

Saudi-Arabien verfügt durch seine Ölexporte über eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen in der Welt. Bei den Menschenrechten hingegen sehen Experten das Land international auf einem der letzten Plätze. Es herrscht in der knapp 35 Millionen Einwohner zählenden saudischen Monarchie eine streng konservative Auslegung des Islam in der Variante des Wahhabismus als Staatsreligion. Grundlage aller Rechtsprechung ist die Scharia. Grausame Strafen wie Amputationen, Steinigungen und der Vollzug von Todesurteilen durch Enthauptung zählen in Saudi Arabien noch immer zur Praxis.

Wegen satirischer Beiträge im Internet oder Menschenrechtsaktivismus verschwinden Angeklagte für viele Jahre in Haft und würden anschließend mit Reiseverboten belegt, berichtet Amnesty International. Homosexualität wird drakonisch sanktioniert. Die absolutistisch regierende Herrscherfamilie aus der Dynastie der Saud fördert und finanziert weltweit die Verbreitung eines islamischen Neo-Fundamentalismus. Amnesty und weitere Organisationen werfen dem Fußballklub aus der nördlichsten Großstadt Englands vor, seinen Anteilseignern sogenanntes »Sportswashing« (Wortkomposition aus Sport und Whitewashing) zu ermöglichen und sich in den Dienst saudi-arabischer Staatspropaganda zu stellen. Trotz allem feierte der unkritische Teil der Fanszene in Newcastle den Deal, als hätten sie unverhofft im Glücksspiel gewonnen. Zu groß scheint die Gier auf Titel. Die letzte Meisterschaft der »Magpies« datiert von 1927.

Vorsitzender des Staatsfonds ist der Kronprinz und faktische Herrscher Mohammed bin Salman. Er veröffentlichte vor sechs Jahren eine umfassende gesellschaftspolitische und ökonomische Reformagenda, die eine Öffnung seines Landes und Investitionen im Ausland vorsieht. Todesurteile für Minderjährige, ordnete das Königshaus im Jahr 2020 an, sollen nicht mehr verhängt und auch keine Auspeitschungen mehr vollzogen werden. Im Westen verpönte Exzesse sind schlecht fürs Geschäft. Hierzulande hatte unter anderem der Fall des Bloggers Raif Badawi für Schlagzeilen gesorgt. Weil er sich öffentlich für Meinungsfreiheit und die Akzeptanz aller Religionen ausgesprochen hatte, war er vor zehn Jahren verhaftet und wegen angeblicher »Beleidigung des Islam« zu tausend Stockschlägen, zehn Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von umgerechnet rund 238.000 Euro verurteilt worden. Im März diesen Jahres gab die Familie Badawis auf Twitter seine Entlassung aus der Haft bekannt.

Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen sind die Reformen in Saudi-Arabien von einer starken Repression gegen religiös Andersdenkende und politische Dissidenten begleitet. Mohammed bin Salman werden schwere Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt. Internationale Ermittler schreiben die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi in der Botschaft Saudi-Arabiens in Istanbul im Jahr 2018 dem engsten Kreis des Kronprinzen zu. Im Vorfeld des Einstiegs des Staatsfonds bei Newcastle United wandte sich deshalb Hatice Cengiz, die Verlobte des Ermordeten, in einem offenen Brief an die Anhänger des Klubs und bat: »Wir sollten nicht zulassen, dass der Fuß­ball von denen in den Dreck gezogen wird, die den Sport nur dafür benutzen, ihre scho­ckie­renden Taten zu ver­bergen. Jetzt ist der Moment gekommen, gemeinsam für das Spiel, Ihren Verein, Ihre Stadt und Ihr Land auf­zu­stehen, um die Tür für diesen Deal zuzuschlagen.« Ein vergeblicher Appell.

Saudi-Arabien investiert nicht nur kräftig in Newcastle United, sondern verpasst dem FC auch gleich eine neue Identität, berichten kritische Stimmen. Beispielhaft dafür sei die Wahl des Auswärtstrikots für die kommende Spielzeit, das aussieht wie ein Duplikat des Designs der saudi-ara­bi­schen Natio­nal­mann­schaft. Der Look dürfte mit Bedacht gewählt sein und sich verkaufsfördernd im Heimatland der Anteilseigner auswirken. Die Kunde vom bevorstehenden Testkick gegen den Premier-League-Klub rief in Fanforen und Blogs im Umfeld des TSV 1860 München höchst gemischte Reaktionen hervor.

Während auf der Plattform dieblaue24.com Euphorie über den geschätzten Marktwert des Gegners herrscht (Zitat: »296,70 (!) Millionen Euro«) und von einem »hochinteressanten internationalen Leistungsvergleich«, gar einem »absoluten Knaller« die Rede ist, schreibt ein User im Blog sechzger.de: »…mögen die Newcastle-Fans noch so trotzig die Fähnchen von Saudi-Arabien schwingen, für mich bleibt es eine Schande.« Auf dem Portal loewenmagazin.de merkt ein Fan an: »Es zieht sich bei Sechzig derzeit ein roter (nicht blauer) Faden durch viele Entscheidungen. Sportlich auf gutem Wege, moralisch hat man den Kompass verloren! Gegen das Spielzeug eines Verbrecherstaates spiele ich, wenn ich muss, sonst nicht!«

(as)

Quellen:

Artikel vom 01.07.2022
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