Weg von der Sucht

Gruppe der Anonymen Esssüchtigen in München gegründet

Wie alle Anonymen Esssüchtigen steht Marie N. jeden Morgen auf der Waage. In ihren schwierigsten Zeiten hat dieser unbestechliche Zeuge bei ihr 20 Kilogramm mehr angezeigt. Foto: cr

Wie alle Anonymen Esssüchtigen steht Marie N. jeden Morgen auf der Waage. In ihren schwierigsten Zeiten hat dieser unbestechliche Zeuge bei ihr 20 Kilogramm mehr angezeigt. Foto: cr

München · "Ich konnte nicht akzeptieren, dass ich dick bin!" Mit diesen Worten beschreibt Elisabeth W. (Name von der Redaktion geändert) aus Norddeutschland, wie sie ihrem eigenen Körper auf die Schliche kam. Denn Elisabeth W. ist krank. "Meine Krankheit heißt Sucht", bekennt sie. Sie ist esssüchtig, aber sie hat gelernt, mit der Krankheit zu leben und umzugehen.

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Mit diesem Wissen hilft sie anderen Betroffenen. Eine davon, Marie N. (Name geändert), lebt in München. Beide wissen: In der Isarmetropole suchen noch viel mehr Menschen Wege aus ihrer Sucht. Deshalb haben sie die Gruppe "Food Addicts in Recovery Anonymous (FA)" ins Leben gerufen. Der Name bedeutet "Anonyme Esssüchtige in Genesung". Die englische Bezeichnung folgt der Herkunft der Gruppe nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker. Diese Selbsthilfegruppe entstand in den USA. Die Münchner Gruppe trifft sich dienstags von 19.30 bis 21.00 Uhr in den Räumen des ASZ Maxvorstadt, Gabelsbergerstraße 55a. Am Samstag, 24. November, findet dort von 10.00 bis 11.30 Uhr eine unverbindliche Informationsveranstaltung statt.

Esssucht bedeutet nicht zwangsläufig "hemmungslos alles Essbare in sich hineinstopfen". Die Gruppe spricht auch Menschen mit Magersucht oder Bulimie an. Denn im Kern haben sie alle dasselbe Problem: ein gestörtes Essverhalten. Auf die Frage, wie sich das konkret bei ihr äußerte, erklärt Elisabeth W.: "Ich hatte kein Gefühl für 'satt'." Marie N. nickt. Ihr ging es ähnlich.

Kaum zu glauben. Beiden Frauen ist nicht anzumerken, dass sie mal erheblich übergewichtig waren. Der Weg zum Jetzt war lang und steinig. 53 Kilogramm ist Elisabeth W. losgeworden, Marie N. wiegt 20 Kilogramm weniger als in ihren schlechten Zeiten - nicht nur eine körperliche Last. Den beschwerlichen Weg konnten beide gehen, weil sie ihn nicht alleine gehen mussten. Elisabeth W. ist seit Jahren in ihrer Heimat in der Selbsthilfegruppe engagiert. Marie N. war bisher regelmäßig nach Augsburg gefahren, weil es eine solche Gruppe in München nicht gab, wie sie berichtet. Elisabeth W. ist der "Sponsor" von Marie N. - ein Mentor, der denselben Weg geht, aber dabei schon viel Erfahrung und Erfolge gesammelt hat. Elisabeth W. drückt das drastischer aus: "Wer 180 Tage nicht gefressen und gekotzt hat, kann Sponsor werden."

Die drastische Sprache mag extrem erscheinen, aber den Betroffenen bringt es nichts, die Situation zu beschönigen. Also nennen sie das Kind beim Namen, auch wenn's wehtut. Denn gleichzeitig stachelt es an, weiterzumachen, nicht aufzugeben. Obwohl es kein langer Kampf ist, sondern ein immer neuer. "Ich mache das nur für einen Tag: heute keine Schokolade! Und das jeden Tag."

Der Sponsor hat eine wichtige Aufgabe. Sie geben den Essplan an ihre "Sponsees" (Gesponserte) weiter, telefonieren häufig mit ihnen (anfangs täglich), geben Tipps, haben Verständnis, fühlen das, was ihre Sponsees fühlen - denn da, wo diese sind, waren sie selbst einmal. Marie N. folgt ihrer Sponsorin. Sie bekennt: "Ich war früher ein Fast-Food-Junkie. Mit meiner Sponsorin habe ich abgesprochen, dass ich keine Pommes mehr esse." Denn essen - und das ist allen Süchtigen wieder gemein - dient ihnen nicht als Nahrungsaufnahme oder Energiezufuhr. Es erfüllt eine Ersatzfunktion, es soll trösten, den Druck nehmen. Dafür ist es aber nicht geeignet.

Das zu erkennen, fällt vielen Betroffenen nicht leicht. Dem Phänomen überhaupt auf die Spur zu kommen, ist schon schwer genug. Sich dann noch einzugestehen, süchtig zu sein, erfordert noch mal eine Menge Mut. Und dann den Weg zu finden, sich anderen zu öffnen - mehr, als viele Menschen zu leisten in der Lage sind. Denn da ist die Scham, die Blicke der anderen, der Nichtsüchtigen, die zu sagen scheinen: "Du hast dich nicht im Griff" oder "Reiß dich doch mal zusammen". Wenn es so einfach wäre. Süchtige Menschen sind krank, haben in einem Teil ihres Lebens die Kontrolle verloren. Sie wollen diese Kontrolle wiederhaben, aber alleine schaffen sie es nicht. Sie brauchen Unterstützung, zum Beispiel eben von der Gruppe der Anonymen Esssüchtigen in Genesung. Auch Partner, Familie und Freunde können sich am 24. November bei der Münchner Gruppe näher informieren. Damit zeigen sie, dass sie verstanden haben oder verstehen wollen, was in den Betroffenen vorgeht. Auch das ist ein großer Schritt.

Elisabeth W. und Marie N. haben ihn gemacht und es nicht bereut. Die Gruppe übt keinerlei Zwang oder Druck aus. Das wäre auch alles andere als konstruktiv. Wer sich dort nicht wohlfühlt, kann gehen. Eine Option, die selten gewählt wird, denn: "Die Freiheit, jederzeit zu gehen, gab mir die Freiheit zu bleiben." Marie N. und Elisabeth W. sind nicht allein. So mancher Münchner ist es noch in seinem Essverhalten. Diesen Menschen wollen sie helfen.

Von Carsten Clever-Rott

Artikel vom 19.11.2018
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