Zivilcourage zeigen!

Wie man anderen hilft, ohne selbst in Gefahr zu geraten

Der Mann ganz links übertritt eine Grenze und beginnt ein vertraulich erscheinendes Gespräch mit der Frau, die trotz der unangenehmen Situation die Ruhe bewahrt. Ihr Mitfahrer geht schließlich resolut dazwischen.	Foto: cr

Der Mann ganz links übertritt eine Grenze und beginnt ein vertraulich erscheinendes Gespräch mit der Frau, die trotz der unangenehmen Situation die Ruhe bewahrt. Ihr Mitfahrer geht schließlich resolut dazwischen. Foto: cr

München · Es müssen dramatische Szenen gewesen sein, die sich da am 13. Januar abgespielt haben. Ein Mann am Boden, kraftlos, hilflos. Menschen gehen an ihm vorbei. Niemand hilft, wahrscheinlich vermuten sie, der Mann sei »nur« betrunken. Tatsächlich hat er eine Lungenembolie erlitten. Kurz darauf stirbt er.

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»Du hilfst? – Ich auch!« Das ist der Untertitel der Kurse für Zivilcourage, die die Aktion Münchner Fahrgäste ins Leben gerufen hat. Treibende Kraft dahinter war Andreas Nagel, Gründer und Sprecher der Aktion. Er war der Mann, der an jenem schicksalhaften 13. Januar erst Hilfe bekommen hat, als es schon zu spät war. Er wurde 57 Jahre alt.

Der tragische Tod eines anderen Menschen war der Auslöser für das Verhaltenstraining für Zivilcourage und Selbstsicherheit, die die Aktion Münchner Fahrgäste gemeinsam mit dem MVV und der Landes- und der Bundespolizei allein in diesem Jahr zwölfmal anbietet. Dominik Brunner schützte am 12. September 2009 vier Schüler vor zwei älteren Jugendlichen und zeigte so Zivilcourage, die nach wie vor selten praktiziert wird. In der folgenden Aus­einandersetzung wurde Brunner von den beiden Jugendlichen schwer verletzt. Er starb wenig später an einer Herz­erkrankung.

In den Kursen lehrt die Aktion Münchner Fahrgäste vor allem eines: Wie kann ich helfen, ohne selbst in Gefahr zu geraten?

In Rollenspielen, Referaten und Diskussionen setzen sich die durchschnittlich etwa 20 Kursteilnehmer mit verschiedenen Szenarien auseinander. Die meisten nehmen an dem kostenlosen Kurs teil, nachdem sie selbst schon unangenehme und bedrohliche Situationen in öffentlichen Verkehrsmitteln erlebt haben.

»Wir haben nicht für jede Situation die ideale Lösung«, dämpft Martin Marino von der Aktion Münchner Fahrgäste die Erwartungen. Auch der bisweilen vermutete Selbstverteidigungskurs verbirgt sich nicht hinter den vierstündigen Seminaren im Verkehrszentrum auf der Theresienhöhe. Viel mehr wollen Fahrgastverband, Polizei und Feuerwehr den Teilnehmern zeigen, wie sie in kritischen Situationen besonnen und deeskalierend reagieren. Schon bevor überhaupt etwas passieren kann, kann sich jeder Fahrgast mit den Sicherheitseinrichtungen eines S- oder U-Bahn-Wagens vertraut machen: Wo ist der Nothalt? Wo ist der Feuerlöscher? Wie kann ich mit dem Zugführer Kontakt aufnehmen? So verliert man im Notfall keine wertvolle Zeit, selbst wenn es nur Sekunden sind.

Täter suchen sich in der Regel leichte Opfer, keine selbstbewussten

Manchmal werden Notsituationen von aggressiven Zeitgenossen regelrecht provoziert. Mitreisende werden angestarrt, verbal oder körperlich bedrängt oder genötigt. Auch davor kann man sich schützen, wie Polizeihauptmeisterin Christiane Boost erklärt. Wer über seine Körperhaltung Selbstsicherheit ausstrahlt, fällt nicht in das »Beuteschema« der Provokateure. Doch so einfach ist es nicht immer. Boost rät zur Beruhigung der Situation. »Wenn mich einer anstarrt, dann schaue ich kurz und selbstbewusst zurück, um zu zeigen: Ich habe dich registriert. Wenn ich dagegen anhaltend zurückstarre, kann er sich selbst provoziert fühlen.« Dann dreht sich die Spirale weiter.

Wer sich in der Gegenwart einer Person unwohl fühlt, sollte nach Möglichkeit den Platz wechseln. Dabei hilft es, wenn man am Gang sitzt anstatt am Fenster. Überhaupt solle man sich auf sein Bauchgefühl verlassen. Man muss nicht erklären können, warum man die Gegenwart eines anderen als unangenehm empfindet.

Ist die Situation schon so weit, dass eine Bedrohung stattfindet, könne man auch andere Fahrgäste ansprechen und um Hilfe bitten, rät Boost. Marino pflichtet ihr bei: »Wenn’s sein muss, rufen Sie um Hilfe! Das ist nicht peinlich!«

Bei einer konkreten körperlichen Bedrohung ist Notwehr erlaubt. »Einen Schmerzreiz setzen«, nennt Christiane Boost die Maßnahme, mit der eine bedrohte Person Zeit gewinnen kann. Dabei zieht sie ein Knie schnell und ruckartig halbhoch. Die Geste ist eindeutig.

An dem Kurs am vergangenen Montag haben überwiegend Menschen teilgenommen, die in zweifelhaften Situationen resolut eingreifen würden – auch wenn sie nicht selbst betroffen sind. In den Rollenspielen in der S-Bahn grätschen sie verbal dazwischen, als ein Improvisationsschauspieler den Provokateur mimt. In dem Moment ist jedes spielerische Element verschwunden. Die Empörung über die Belästigung im Zug ist bei den Teilnehmern echt. Unmissverständlich stellen sie sich dazwischen, lassen kaum einen Zweifel, das jederzeit so wieder zu tun.

Nicht jeder kann das. Das muss man üben und letztlich ist es auch eine Frage des eigenen Naturells. Was aber jeder kann: unbemerkt mit dem Handy Hilfe holen, vielleicht sogar Fotos von der Situation und dem Täter machen – aber eben unbedingt unbemerkt, sonst wird man selbst noch zur Zielscheibe des Angreifers.

Es gibt viele Situationen in der Öffentlichkeit, in der jeder zur Hilfe verpflichtet ist. Aber es gibt auf alle nur eine Reaktion: helfen. Das war die Botschaft von Andreas Nagel.

Von Carsten Clever-Rott

Artikel vom 03.02.2017
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