Kolumne „Philipp auf der Insel“: Ein Tag bei der Stadtratssitzung (City Council Meeting)

München · Englische Politik miterleben

Als Gast sitzt man im City Council von Lancaster nicht in der ersten Reihe.	 phil

Als Gast sitzt man im City Council von Lancaster nicht in der ersten Reihe. phil

München · Obwohl die Stadtratssitzungen in München öffentlich sind, kommt kaum ein Münchner auf die Idee, sich die Debatten im Rathaus anzusehen.

Goodbye Germany, England we’re coming

Das ist in englischen Rathäusern nicht anders. Trotzdem hat sich der Giesinger Austauschschüler Philipp von der Wippel (16) dazu entschlossen, sich ein solches Spektakel in Lancaster anzuschauen. Dass er kurzzeitig selbst im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, hatte er allerdings nicht erwartet.

Aus allen Himmelsrichtungen strömen schwarzgekleidete Gestalten mit flottem Schritt auf einen majestätischen Gebäudekomplex zu. Diese auf ein Ziel gerichtete Bewegung verleiht der Situation fast schon etwas Unheimliches. Während ich mich der Masse unauffällig anschließe und das von mächtigen Säulen eingerahmte Portal ansteuere, fährt eine schwarze Limousine vor, steigen zwei Männer mit goldenen Amtsketten aus und zugleich wird die Fahne am Turm gehisst.

Ich folge heute einer Einladung des Bürgermeisters von Lancaster, Paul Woodruff, der Stadtratssitzung (City Council Meeting) beizuwohnen und so königlich englische Politik hautnah mitzuerleben. Heute bin ich dabei, wenn sich wieder die Labours zutiefst über die Conservatives empören und nur die Androhung härtester Konsequenzen durch den Vorsitzenden die Fortsetzung einer geordneten Diskussion ermöglicht. Im gleichen Atemzug mit der Einladung fühlte sich Mayor Woodruff aber auch von seinem Gewissen gedrängt, mich vor der bevorstehenden Erfahrung zu warnen: »Du wirst Leute treffen, die Hand in Hand in den Plenarsaal hineinspazieren, sich während des Meetings die rauchenden Köpfe einschlagen und nach dem letzten Tagesordnungspunkt Arm in Arm aus dem Rathaus heraus schlendern.«

Aufgrund der Zusammenlegung vieler Ortschaften zu einem Lancaster findet das Treffen der Entscheidungen nicht immer im gleichen Rathaus statt, sondern rotiert von Ort zu Ort. Mit der handschriftlichen Wegbeschreibung des Bürgermeisters, die sich im Bus dank einer sehr fürsorglichen Dame schon als überflüssig erweist, mache ich mich überpünktlich auf den Weg in Richtung Town Council Morecambe. Aufgrund meines lauten Fragens im Bus geben sich schnell drei Studenten als Stadträte zu erkennen. In politische Diskussionen vertieft, laufen wir eben nun gemeinsam die Promenade am Meer entlang.

Hinter der recht normalen Eingangstüre verbirgt sich eine unerwartet riesige Eingangshalle. Während ich zur persönlichen Anmeldung als Gast anstehe, bewundere ich links von der mit rotem Teppich ausgelegten Treppe Porträts aller englischen Könige seit dem Mittelalter und rechts die Galerie aller Bürgermeister seit Stadtgründung. »Wo sind denn plötzlich alle hin?« Ich kann niemanden außer mir mehr in der übergroßen Eingangshalle erspähen. Ein bisschen verunsichert mache ich mich auf die Suche nach meinem Gastgeber, dem Mayor. Letztendlich an einem Zimmer mit der Aufschrift »Mayor« angelangt, treffe ich ihn auch tatsächlich ins Sortieren von Dokumenten vertieft an. Er kann das rätselhafte Geheimnis lüften: Die Fraktionen treffen sich schon eine halbe Stunde vor Beginn der Sitzung, ziehen sich zurück und gehen die 102-seitige (!) Tagesordnung durch, um ihre (parteipolitischen) Standpunkte zu besprechen und dann bestmöglich geschlossen auftreten zu können. Diese inoffiziellen Vorentscheidungen nehmen nach Meinung des unabhängigen Politikers Woodruff »entscheidend viel von der unvoreingenommenen und offenen Diskussion im Plenum weg«.

Es ist höchstinteressant, einem Bürgermeister bei der Vorbereitung einer Vollversammlung zuzusehen. Trotz aller Gastfreundlichkeit seinerseits möchte ich ihn auf keinen Fall von der Arbeit abhalten und so vielleicht sogar den Erfolg der Versammlung oder gar den Kurs der Nation gefährden. Sein Stellvertreter Mr Sowden, der zweite Mann mit eindrucksvoller Stadtratskette um den Hals, gibt mir mit dem Besuch der einzelnen Parteien in ihren jeweiligen Räumen eine schnelle Hausführung. Als wir im geschmückten und auch kulinarisch vorbereiteten Plenarsaal ankommen, nutzen wir die Gunst der Stunde, um uns die ersten Stücke des Buffets zu sichern.

Die Glocke ertönt. Der ganze Saal erhebt sich als Zeichen der Wertschätzung und der Würde. Der mit prächtigem Zepter vorausschreitende Sekretär kündigt den eintretenden Bürgermeister an. Bevor sich alle setzen, wird eine Schweigeminute für den Tod eines Mitgliedes vollzogen. Achtzig schweigende, auf den Fußboden blickende Politiker – wenn das nicht die personifizierte Kraft ist!

Die hinterste Reihe des im Halbkreis angeordneten Raumes ist für Gäste wie mich reserviert. Ich überfliege dort gerade die Tagesordnung der Sitzung, als ich plötzlich meinen nicht in den englischen Wortfluss passenden Namen durch das Mikrofon höre. Überrascht sehe ich mich aufstehen und der Bitte nach einer kurzen Ansprache über meinen Besuch nachkommen. Gänzlich unvorbereitet schlage ich den Bogen von meiner Person über mein Interesse an England bis zum Interesse an der Politik unserer Zeit. Der erste Diskussionspunkt ist verlesen und sofort gehen die einzelnen Parteien in ihre Stellungen der Kritik und Verteidigung. Es werden harte Verhandlungen und intensive Diskussionen.

Während des fünfstündigen Treffens habe ich viel Zeit für genaue Beobachtungen. Drei Dinge beeindrucken mich besonders: zu allererst die heitere und humorvolle Grundatmosphäre, die zeigt, dass es auch noch etwas Wichtigeres gibt als Politik. Dann die Hartnäckigkeit, Sturheit und das Durchsetzungsvermögen, wenn es um spezifische Fragen geht – da wird dann schon auch mal gelegentlich unter die Gürtellinie geschossen.

Was mich aber am meisten beeindruckt, ist die Ähnlichkeit mit dem römischen Senat. Kein römischer Kaiser hat mich zwar bisher zu einer Senatssitzung eingeladen, aber die Erzählungen der Römer im Lateinunterricht und das hier Erlebte stimmen überein: von der einjährigen Legislaturperiode über alle in der Versammlung gefallenen Entscheidungen bis zu der Art und Weise, wann und wie gesprochen werden darf.

Finanzberichte werden vorgelesen, neue Kindergärten werden beschlossen, die Polizei berichtet über das letzte Jahr… alles querbeet! Auch kuriose Nachbarschaftsstreitigkeiten kommen nicht zu kurz und sorgen mitunter für langes und parteiübergreifendes Lachen. Mit einem deutlichen Haken hinter dem letzten besprochenen Thema, schließt der Mayor ganz im Stil des ehemaligen Münchner Bürgermeisters Thomas Wimmer die Versammlung mit den Worten: »Let’s do it in this way.« – »Mach mas so.« Beim Verlassen des Hauses der Entscheidungen stellt Mr Woodruff ganz richtig fest: »Wir wollen doch alle ans gleiche Ziel – nur auf den Weg können wir uns immer nicht einigen.«

Artikel vom 06.03.2012
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