Kolumne „Philipp auf der Insel“: Bräuche, Rituale und Sitten

München · Wie lange braucht man, um ein Engländer zu werden?

„Smile!“ – Liebe Münchner: der junge Mann rechts ist Alex und immer gut drauf!		Foto: phil

„Smile!“ – Liebe Münchner: der junge Mann rechts ist Alex und immer gut drauf! Foto: phil

München · Wenn man offen dafür ist, kann es ganz schnell gehen. Das beweist unser Giesinger Austauschschüler Philipp von der Wippel (16) – und erzählt davon.

Goodbye Germany, England we’re coming

„Pflegen die Engländer etwas Vergleichbares wie unseren geliebten Alltag, oder fahren sie den ganzen Tag mit Vorliebe auf der linken Fahrbahn, essen Plum Pudding, spielen bei Minusgraden mit knapper Bekleidung Rugby und beenden schließlich zufrieden ihren Tag im Pub mit einem erfrischenden Guinness Beer?“ Genau diese Frage habe ich mir weit oben in der Luft auf dem Weg nach Manchester gestellt. Denn das meiste, was ich mit der Insel assoziierte, waren eben diese Vorstellungen vom typischen Engländer.

Er hat definitiv einen Alltag – auch wenn sein everyday life ein wenig anders ausfällt. In diesen Alltag bin ich in der vergangenen Woche von Kopf bis Fuß eingetaucht, indem ich schweren Herzens alle Gewohnheiten fallen ließ und die hier herrschenden Bräuche, Rituale und Sitten aufgenommen habe. Nun bin ich dabei diese Eigenheiten der Engländer bestmöglich anzunehmen – das wohlwollende Schmunzeln der Busfahrer, der Barkeeper oder auch meines Gastbruders verrät mir aber, dass noch ein Stück bis zur Staatsbürgerschaft fehlt.

Mein Tag beginnt um sieben Uhr. Das ist meine Zeit auf dem vereinbarten „Bad-Benutzungs-Plan“, die ich nicht verpassen sollte – also alle aufgepasst, die einen Austausch auf der Insel planen: Gewissenhaft den Badplan und Küchendienst einhalten - die Engländer tun es. Schnell werfe ich mich in weißes Hemd, Krawatte, Sakko (oder Pullover), schwarze Hose und schwarze Schuhe. Nach einer kurzen morgendlichen Stärkung mit Cornflakes oder Porridge (großes Frühstückbuffet gibt es nur am Wochenende) fällt auch schon die Tür hinter mir ins Schloss.

Mit der Hupe des Busfahrers beginnt der Schultag in England. Nicht die Schulglocke oder gar die Stimme des Lehrers bilden den Auftakt des Tages, sondern die quer durch den Bus rufenden Schüler, die den öffentlichen Bus zu einem reinen Schulbus verwandeln. Die Masse strömt den Weg zur Schule hinauf. Wenn die Busse verspätet sind, dann passiert es, dass ein ganzer Pulk von Schülern auf die Schule zu rennt. Ein tolles Bild wahrer Gemeinschaft!

Die Briten beginnen die Schule nicht mit dem Unterricht, sondern mit einer viertelstündigen „Assembly“ in den einzelnen Häusern, in denen „hausinterne“ Angelegenheiten besprochen werden. Nächste Woche findet ein Fußballturnier zwischen den Häusern statt – wer gewinnt ist wohl klar: Natürlich das Haus Osborne!

Der Zeiger rutscht auf viertel nach neun, die überlaute Schulglocke, die mich an traditionelle Wecker erinnert, läutet und ich mache mich auf den Weg zu Business Studies. Der deutlichste Unterschied zwischen Heimat (Deutschland) und zu Hause (mittlerweile England) ist mir im Umgang zwischen Lehrern und Schülern aufgefallen: Ich habe hier bisher keinen zornigen Lehrer erlebt; niemanden, der Nacharbeit androht; und auch niemanden, der den Schüler im übertragenen Sinn ins Messer laufen lässt. Hier sind Lehrer „Teacher“, und die Bezeichnung „Teacher“ wird als Coach, Trainer oder Mentor aufgefasst. Meine Trainer sind auf einer Ebene mit mir, sie wollen meinen Erfolg und nicht den des Unterrichtsfaches – und am Allerwichtigsten: Sie bleiben Menschen, wie ich sie auch im Shopping Center von Lancaster antreffen würde: Sie lachen, erzählen von der neuen Freundin und klagen über das langweilige Fernsehprogramm…

Ebenso etwas absolut Neues waren die vielen Frees (Freistunden), die in meinem Stundenplan enthalten sind. Zuerst fragte ich mich, womit ich all diese Stunden füllen könne. Doch die Schüler leben es mir vor: Lernen, lesen, essen, ratschen, Sporttreiben, Musik und Theater spielen. Diese Stunden sind Einladungen zur selbstständigen Gestaltung – umso mehr freue ich mich immer, wenn mich in den Frees liebevolle E-Mails aus der Heimat erreichen.

Die Schulglocke läutet zum letzten Mal und der Fitnessraum ruft. Der Minutenzeiger macht eine Runde, während ich schwitzend auf den Geräten sitze, bevor der Tag gemütlich zu Hause ausklingt. Aus dem Wohnzimmer ruft es „How was your day, Philipp?“ – das war mein Gastbruder Alex. Ich habe gerade die Haustüre geöffnet und freue mich jetzt auf einen lustigen – mit Alex ist es immer lustig – und entspannten Abend mit englischem Essen, einer guten Folge von Alex’ Lieblingsserie NCIS und viel schwarzem britischen Humor! Ich habe mich in diesen way of life jetzt schon verliebt und genieße jeden Tag aufs Neue!

Artikel vom 12.01.2012
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