Es passiert jeden Tag. Oft in der Nachbarschaft: häusliche Gewalt. Die mit allermeisten Opfer sind Frauen und Mädchen. Die allermeisten Täter sind Männer. 187.128 Fälle häuslicher Gewalt wurden 2024 in Deutschland angezeigt. 308 Frauen wurden von ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet. Das jüngst erschienene Buch „(UN)ERHÖRT – Frauen reden über häusliche Gewalt“ will ein Weckruf sein und fordert dazu auf, hinzusehen: Häusliche Gewalt ist kein „Einzelschicksal”, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem.
In „(Un)erhört – Frauen reden über häusliche Gewalt“ präsentieren sich 25 Frauen verschiedenen Alters, die Partnerschaftsgewalt erlebt und überlebt haben, in einer ganz neuen Form: Sie erzählen unter ihren Klarnamen, was ihnen von den Menschen, die sie am meisten geliebt haben, angetan worden ist. Sie beschreiben, wie sie von der Gesellschaft oder vom Rechtssystem von Opfern zu Täterinnen gemacht wurden. Sie berichten, wie sie sich von ihren Peinigern befreien konnten und sich ins Leben zurückgekämpft haben. Sie reflektieren, was ihnen in dieser Situation geholfen hat und was sie Gewaltbetroffenen raten würden. Vor allem aber zeigen sie, dass man selbst aus den schlimmsten Situationen gestärkt hervorgehen kann.
„Solange wir schweigen, bleibt das System bestehen”, mahnte Romy Stangl. Die Vorstandsfrau von One Billion Rising München hatte zu der Buchvorstellung und Diskussion in die Seidlvilla eingeladen. „Mit diesem Buch wollen wir Debatten anstoßen. Es ist der Anfang von Veränderung.” Stangl dankte den beteiligten Frauen für ihren Mut, von ihren Erlebnissen zu berichten: von Manipulation, von Misshandlung, von Schlägen, von Vergewaltigung, vom Mord an ihren Kinder. „Ihr habt Unfassbares erlebt, das niemand erleben sollte”, so Stangl, „und ihr habt überlebt.” Das Buch mache lange unsichtbare Frauen sichtbar: „Ihr habt das Schweigen durchbrochen!”
„Wir möchten Frauen, die Gewalt erleben, Mut machen und ihnen Perspektiven aufzeigen”, erklärte Anna Clara Schrenker, die einige der Frauen für das Buch porträtiert hat. „Wir möchten ihnen das Gefühl geben, dass sie gehört werden!” Das ist noch immer nicht selbstverständlich: „Betroffene finden zu wenig Gehör”, kritisierte Inga Fischer, Vorstandsvorsitzende des seit 131 Jahren bestehenden Vereins für Fraueninteressen. „Häusliche Gewalt ist ein riesiges gesamtgesellschaftliches Problem. Es wurde viel zu lange als Einzelschicksal betrachtet.”
„Viele Betroffene fühlen sich vom Rechtssystem nicht gehört”, bestätigte Romy Stangl. Davon berichteten auch mehrere Frauen: Verfahren gegen Täter werden gar nicht erst eingeleitet, weil Staatsanwälte kein öffentliches Interessen erkennen wollen (obwohl das Grundgesetz alle staatliche Gewalt verpflichtet, die Würde jedes Menschen zu schützen); das Sorgerecht für Kinder wird gewalttätigen Partnern übertragen; Richter argumentieren, in einer Ehe gäbe es keine sexuelle Gewalt.
Wie kann es sein, dass Opfer keine Unterstützung erfahren? Dass ihnen nicht geglaubt wird? Dass Behörden trotz Belegen nicht eingreifen? Diese Fragen einer der Frauen blieb unbeantwortet - und viele Fragen werden falsch gestellt. Häufig werde gefragt, warum eine Frau in einer gewalttätigen Beziehung bleibe, meinte Romy Stangl (die Antwort darauf ist im Buch zu lesen). Aber kaum jemand frage, warum ein Mann Gewalt ausübe.
„Die Gesellschaft muss Stopp sagen!”, erklärte Andreas Schmiedel (MIM - Münchner Informationszentrum für Männer). Gewalttätige Männer hielten erst inne, wenn sie Konsequenzen für ihre Übergriffe spüren. Bei Verstößen gegen ein Kontaktverbot solle man Gewalttäter in Präventivgewahrsam nehmen, forderte er: „Bei den Klimaklebern tut man das doch auch!”
Die Erlöse des Buches „(Un)erhört” werden an Organisationen gespendet, die Betroffene unterstützen, Gewaltprävention leisten und sich für Gerechtigkeit einsetzen.
Lilly-Allegra Hickisch vom Deutschen Institut für Menschenrechte erläuterte den Stand der Umsetzung der Istanbul-Konvention, die in Deutschland seit 2018 bindendes Recht zum Schutz von Frauen und Mädchen ist. Sie zog eine ernüchternde Bilanz: Es gibt weder genügend Schutzeinrichtungen noch ausreichend Personal oder eine verlässliche Finanzierung.