Heiligabend fühlt sich an wie eine Vollbremsung. Morgens am 24. Dezember rennen meist Männer noch durch Baumärkte, als ob es um ihr Leben ginge, um noch einen akzeptablen letzten Weihnachtsbaum aufzugabeln. Überfüllte Einkaufswagen werden in den Supermärkten den Kassen zugeschoben, als ob eine langfristige Hungersnot droht. Zielstrebige Jagd bis zur letzten Sekunde.
Und dann schlagartig, bei Ladenschluss: Der Grundmodus wechselt unmittelbar von „hektische Betriebsamkeit” in eine andere Art Raum-Zeit-Kontinuum, die „totale Entschleunigung”.
Der Soziologe Hartmut Rosa redet in seinem viel beachteten Buch „Resonanz” (2016) von einer unaufhaltsamen Beschleunigung unserer Gesellschaft, die durch die Steigerungslogik und den Wettbewerbsmodus der Moderne verursacht wird. Und das wird jedes Jahr extremer. Dies macht auch vor uns und vor der Adventszeit nicht Halt. Auch Familienfeste lassen sich steigern: Die Geschenke müssen etwas größer oder teurer sein als im Vorjahr, die Dekoration und das Essen noch eine Spur raffinierter, die Inszenierung des Festes eine Nuance aufwändiger. Dass das Fest unbedingt gelingen muss, hat schon so manche Familienweihnacht unter solchen Druck gesetzt, dass sie zur gefühlten Katastrophe wurde.
Hartmut Rosa sieht beim christlichen Glauben mit seiner jahrhundertealten Heiligen Schrift und seinem immer gleichen Verlauf des Kirchenjahres eine weitgehende Resistenz gegenüber den „Imperativen der Steigerungslogik und der Beschleunigung”. Kirche wird zu einer Insel der Verlässlichkeit im Strom des „immer schneller, höher und weiter”.
Wenn ich diesen Gedanken weiterdenke: Die Weihnachtsgottesdienste der christlichen Kirchen haben eine wichtige Funktion und Botschaft. Sie helfen den Menschen, das Tempo rauszunehmen – und das zumindest einmal im Jahr. Für diejenigen, die wollen, auch öfter. Wir singen die alten Lieder und hören die vertraute Geschichte von Bethlehem, Maria und Josef, den Hirten auf dem Feld und natürlich den Engeln. Und wir vergewissern uns: Gott hat diese immer schneller rasende Welt immer noch im Griff. Er meint es so gut mit uns Menschen, dass er uns in einem Kind in der Krippe ganz nahekommt.
Dieses Geschehen kann uns berühren und in unserem Herzen Resonanz finden und uns wieder öffnen für Empathie, Hingabe, Zuwendung und Sinn. All dies sind Begriffe, die sich mit der Weihnachtsbotschaft von der Liebe Gottes zu den Menschen verbindet. Gelingendes Leben, auch nicht ein gelingendes Fest, wächst nicht aus Leistung oder erfolgreicher Selbstinszenierung, weder in der Familie noch in den sozialen Medien, sondern aus Begegnung, Berührung und Liebe.
Gönnen Sie sich doch dieses Jahr einige Momente der Entschleunigung an den Feiertagen! Besuchen Sie uns in den Kirchen in Moosach bei einem unserer Gottesdienste oder einer anderen Veranstaltung. Und hören Sie wieder neu dieselbe alte Botschaft: „Sein Friede kommt auf die Erde zu den Menschen, denen er sich in Liebe zuwendet!” (Lukas 2,14 / Basisbibel)
Pastor Jörg Finkbeiner
Evangelisch-methodistische Erlöserkirche München, Hanauer Straße 54