Kirchenabriss vor 75 Jahren: Gedenken an Sankt Matthäus

Ludwigsvorstadt/Isarvorstadt · Ein Opfer Hitlers

Die alte Matthäuskirche: In einer Ausstellung können Bilder des Gotteshauses angesehen werden. Pfarrer von Segnitz (kl. Foto) und die Kirchengemeinde haben ein »Programm des Erinnerns« zusammengestellt.	Fotos: scy/Sankt Matthäus

Die alte Matthäuskirche: In einer Ausstellung können Bilder des Gotteshauses angesehen werden. Pfarrer von Segnitz (kl. Foto) und die Kirchengemeinde haben ein »Programm des Erinnerns« zusammengestellt. Fotos: scy/Sankt Matthäus

Ludwigsvorstadt/Isarvorstadt · Die Orgel spielte ein letztes Mal, die Kerzen wurden ausgeblasen, viele der anwesenden 1600 Menschen hatten Tränen in den Augen, auch der Pfarrer: Am Abend des 13. Juni 1938 wurde in der evangelischen Sankt Matthäuskirche Abschied gefeiert.

Schon am nächsten Morgen begannen die Abbrucharbeiten. »Diese Kirche war eine Kirche, die Hitler im Weg stand«, formuliert es die Historikerin Inge Kuller. Die nationalsozialistische Regierung habe Platz gebraucht, um ihre »Hauptstadt der Bewegung« zu realisieren. Den Titel »Hauptstadt der Bewegung« gab Adolf Hitler 1935 der bayerischen Landeshauptstadt in Anlehnung an die dortigen Anfänge der NSDAP. München zählte zu den fünf sogenannten Führerstädten, zusammen mit Hamburg, Nürnberg, Linz und Berlin, für die Hitler gigantische Umbauten plante. 75 Jahre liegt der Abriss von Sankt Matthäus nun zurück. Die Kirchengemeinde nimmt das zum Anlass und hat ein »Programm des Erinnerns« zusammengestellt. »Sankt Matthäus wird mit seiner Geschichte immer auch ein Ort sein, der an die Verletzlichkeit der Menschenwürde erinnert«, sagt Gottfried von Segnitz, der heutige Gemeindepfarrer von Sankt Matthäus an der Nußbaumstraße.

Was damals geschah, hat heute noch Relevanz. »Die Abrissgeschichte bietet Gelegenheit, sich zu vergewissern und darüber nachzudenken, wo heute mutiges Handeln und Zeugnis wichtig sein können«, so von Segnitz weiter. Es würden weiterhin die Fragen bleiben, wann es darauf ankommt, sich gegen den Strom der Zeit zu stellen und nicht abzutauchen, sondern den Glauben an Gott tatkräftig zu leben und sich dabei gegen menschenverachtende Tendenzen zu wehren. In Sankt Matthäus sei man sich seiner Verpflichtung bewusst, wie der Pfarrer sagt: »Wir leben in unserer Gemeinde den Auftrag unseres Glaubens, den Auftrag der Liebe.«

Die einstige Matthäuskirche hatte ihren Standort südlich des Stachus, an der heutigen Sonnenstraße. Genau dort sollte die Straße erheblich verbreitert, Parkmöglichkeiten geschaffen und U-Bahn-Tunnel gebaut werden. Die Abrissarbeiten zogen sich über gut drei Wochen hin. In einem ersten Schritt wurden Kunstgegenstände aus der Kirche entfernt, am 28. Juni 1938 wurde die Vorhalle gesprengt, am 3. Juli der Turm. Auch die benachbarte Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße wurde mit abgerissen. Historiker wie Kuller weisen darauf hin, dass es freilich um mehr ging als um die Realisierung eines Verkehrskonzepts. Die Kirche an sich habe Hitler im Wege gestanden. Nach 1938 war die Gemeinde erst mal obdachlos. Bis 1944 kam sie schließlich im weißen Saal des Polizeipräsidiums unter, dann in einer Gastwirtschaft, ab 1947 am heutigen Standort am ­Sendlinger-Tor-Platz. Zunächst in einer Baracke, dann aber wurden die Pläne für einen Neubau immer konkreter und ein Architektenwettbewerb wurde ausgeschrieben, den Gustav Gsaenger gewann. Die neue Kirche konnte im Jahr 1955 eingeweiht werden.

15.000 Menschen gehörten damals zum Gemeindesprengel, heute sind es noch 4500. Was vor allem, so von Segnitz, an der veränderten Wohnkultur liege, denn inzwischen würde die Innenstadt vor allem gewerblich genutzt. Trotz niedriger Einwohnerzahl im Zentrum, an Sonntagen kommen dennoch rund 500 Menschen nach Sankt Matthäus. »Wir sind nicht nur Gemeindekirche, sondern auch ›Kristallisationspunkt‹, die Leute kommen von überall her, um mit uns Gottesdienst zu feiern«, berichtet von Segnitz. Sich als evangelische Christen offen zu versammeln, so selbstverständlich war das in den Anfängen nicht. Im Jahr 1833 war Sankt Matthäus das erste evangelische Gotteshaus in München. Es sollte laut von Segnitz auch ein Zeichen setzen mit der Botschaft: »Die Evangelischen sind in der Regierungshauptstadt angekommen.«

Gesammelte private Geschichten

Der erste Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Hans Meiser, der 1933 berufen wurde, machte Sankt Matthäus schließlich zu seiner Bischofskirche. So die offiziellen Fakten. Doch gibt es zig private Geschichten aus der Zeit der alten Matthäuskirche. Und die werden noch bis zum 22. Juni gesammelt. »Wir haben schon einige Rückmeldungen bekommen und freuen uns über jeden, der aus seinen Erinnerungen erzählt«, sagt der Gemeindepfarrer.

Die Geschichten werden im Gemeindesaal am Freitag, 28. Juni, um 15 Uhr vorgelesen. Zum Programm gehören unter anderem auch diese Veranstaltungen: Die Kartensammlung »Ansichten der alten Matthäuskirche«, die noch bis Sonntag, 7. Juli, im Foyer der Sankt Matthäuskirche an der Seite zur Lindwurmstraße zu sehen sein wird. Am Sonntag, 16. Juni, findet um 11.00 Uhr ein Spaziergang statt von der Matthäuskirche zum Gebet auf dem Marienplatz, entlang der Standorte der alten Matthäuskirche und der alten Hauptsynagoge. Am Freitag, 28. Juni, gibt es um 19.30 Uhr einen Vortrag im Gemeindesaal der Matthäuskirche zum Thema »Vergessen – Erinnern – Hoffen. Gedanken zur christlichen Kultur des Erinnerns«. Referent ist Konrad Stock, ein Enkel von Friedrich Loy, der 1934 bis 1956 Pfarrer in Sankt Matthäus gewesen ist – zur dunkelsten Zeit also in der Geschichte dieser Kirche.

Weitere Informationen gibt es im Internet unter www.stmatthaeus.de.

Sylvie-Sophie Schindler

Artikel vom 11.06.2013
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