Heikle Situation

Ebersberg · Projektgruppe Demenz zeigt Probleme für Erkrankte und Angehörige auf

Die Corona-Pandemie stellt die Unterstützung für Menschen mit Demenz und deren Angehörigen vor große Herausforderungen.  Foto: CCO

Die Corona-Pandemie stellt die Unterstützung für Menschen mit Demenz und deren Angehörigen vor große Herausforderungen. Foto: CCO

Ebersberg · „Demenz kennt keinen Lockdown“ hat die Projektgruppe Demenz der Gesundheitsregion plus im Landkreis Ebersberg bei ihrem jüngsten Online-Treffen feststellen müssen.

Im regen Austausch der Teilnehmenden aus sozialen Verbänden, Seniorenorganisationen, Pflege, Medizin und Politik sei aus verschiedenen Blickwinkeln deutlich geworden, dass die Pandemie und deren Begleitumstände „erhebliche Auswirkungen auf dementiell Erkrankte und deren Angehörige haben“, so Projektgruppenleiterin Elfi Melbert. Daher läge es der Gruppe am Herzen, „auf die schwierige Situation für Erkrankte und Angehörige aufmerksam zu machen und Defizite anzusprechen.“

„Um sich sicher und wohl zu fühlen, sind Menschen mit Demenz unter anderem auf Rituale und eine wohlwollende, sie akzeptierende Umwelt angewiesen“, sagt Cornelia Alheid, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin der LMU München. So habe der für seine Forschungen zur Demenz bekannte Psychologe Tom Kitwood festgestellt, dass eine Umwelt, die sich dem Demenzkranken anpasse, dessen Erkrankung zwar nicht aufhalten, sehr wohl aber verlangsamen könne.

„Der Pandemie wegen geschlossene vertraute Angebote wie regelmäßige Veranstaltungen, zum Beispiel Demenzkaffees, fehlen oder durch die aktuelle Mehrfachbelastung überforderte, alleingelassene pflegende Angehörige bergen das Risiko, dass sich Krankheitsverläufe schneller verschlechtern“, so Alheid.

„Demenz kennt keinen Lockdown“, erklärte die stellvertretende Fachbereichsleiterin Ambulante Pflege im Caritasverband der Erzdiözese München und Freising beim Online-Treffen der Projektgruppe Demenz. Diese sei in ihrem Gedanken- und Erfahrungsaustausch durch die neue Studie „Pflegende Angehörige in der Covid-19-Krise – Ergebnisse einer bundesweiten Befragung“ der gemeinnützigen Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege angeregt worden, so Elfi Melbert.

Den in den Schlussfolgerungen der Studie angesprochenen Herausforderungen für pflegende Angehörige und die von ihnen betreuten Menschen in sozialer, psychischer, womöglich auch gesundheitlicher oder wirtschaftlicher Sicht begegnen die Mitglieder der Projektgruppe Demenz immer wieder bei ihrer Arbeit.

„Ich hatte neulich eine weinende 87-Jährige am Telefon, die erst nach sehr vielen Versuchen mit ihrem Anruf beim Impfzentrum durchgekommen ist und der dann gesagt wurde, sie solle in der nächsten Woche wieder anrufen“, schildert Elfi Melbert, Leiterin der Betreuungsstelle im Landratsamt Ebersberg, die Verunsicherung mancher hochbetagten Menschen im Umgang mit der aktuellen Impfsituation gegen Covid-19.

„Menschen, die zuhause leben und nicht zum Impfen kommen können, und dazu zählen insbesondere, aber eben nicht nur jene mit einer demenziellen Erkrankung, hat man ganz vergessen“, fürchtet sie. Doch das Virus sorge noch für andere unliebsame Überraschungen, so die Sozialpädagogin.

Sie weiß, dass Angehörige aus Furcht, die alten Menschen anzustecken, diese nicht mehr daheim besuchen. Das Essen vor die Tür stellen und wieder gehen, könne gerade bei dementiell Erkrankten zu wenig sein, so Melbert. „Wer weiß dann, ob sie wirklich etwas gegessen haben?“ Insgesamt seien pflegende Angehörige schon vor Covid-19 stark gefordert gewesen.

In einer Pressemitteilung aus dem Dezember letzten Jahres stellt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz fest, dass in Deutschland „heute etwa 1,6 Millionen Menschen mit Demenzerkrankungen“ leben. „Etwa zwei Drittel davon werden in der häuslichen Umgebung von Angehörigen betreut und gepflegt.“ Der Spagat zwischen Sorgearbeit, Beruf, Home-Office, Familie und vielleicht auch noch Homeschooling würde manche Angehörige schier an den Rand ihrer Kräfte treiben, so Elfi Melbert. Hinzu kämen womöglich auch noch finanzielle Sorgen.

Dass Angehörige wegen geschlossener Betreuungseinrichtungen wie etwa einer Tagespflege stark überfordert sein können, hört auch Dagmar Kiefert vom Zentrum für Ambulante Hospiz- und Palliativversorgung München Land, Stadtrand und Landkreis Ebersberg der Caritas-Dienste im Landkreis München (ZAHPV) in Gesprächen immer wieder. „Kein Krankenhaus mehr“ heiße es heute oft auch, wenn Menschen mit einer Demenz akute medizinische Versorgung bräuchten. „Die Angehörigen haben dann große Angst, dass sich die Demenzerkrankten, die Ortswechsel ohnehin nur sehr schwer bis gar nicht ertragen, anstecken könnten, und entscheiden sich dann lieber für eine Betreuung mit dem Hausarzt oder mit uns“, erzählt die Palliativ Care Pflegekraft.

Für die Angehörigen bedeute diese Entscheidung immer aber auch die sie belastende Frage: „Habe ich das richtig gemacht?“ Für die Menschen mit einer Demenz und für Ältere, oft Alleinstehende, führten Pandemie und Lockdown allzu oft in die Einsamkeit, so Dagmar Kiefert.

Sie hat - auch für die Zeit über die Pandemie hinaus - ad hoc kreative Lösungen parat: „Man könnte über andere Strukturen nachdenken, zum Beispiel Menschen ab einem bestimmten Alter als Mentoren für Betagte, ähnlich wie es sie ja schon für Jugendliche gibt, anfragen“, sagt sie. Eine andere Möglichkeit, alte Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren, könne die Unterstützung von Hausärzten durch angestellte Helfer sein, die beim Hausbesuch zum Blutdruckmessen oder Ähnlichem auch gleich sehen könnten: „Sind sie gut versorgt oder sollte man ein Netzwerk aufbauen?“

In eine ähnliche Richtung geht die Idee von Rolf Jorga: „Im Rahmen ihrer Verpflichtung zur Daseinsfürsorge sollte jede Kommune eine zentrale Stelle haben oder einrichten, die die notwendigen Daten ihrer Senioren pflegt und sie jederzeit verfügbar macht“, sagt der 82-Jährige. „Wie leben sie? Alleine, mit Familie, in Gemeinschaft, können sie sich selbst versorgen? Haben sie Angehörige? Leben sie in einem Pflegeheim? Werden sie von einem ambulanten Pflegedienst betreut?“, so der stellvertretende Kreisvorsitzende der Senioren-Union im CSU-Kreisverband Ebersberg.

Die Projektgruppe Demenz hoffe, dass die durch die Pandemie „deutlich gewordenen Defizite im Umgang mit der alternden Gesellschaft“ zu vielen kleinen und großen Veränderungen im Sinne der Betagten mit und auch ohne Demenz führen, sagt Elfi Melbert abschließend. So könne diesen auch wieder Mut erwachsen, weil sie nicht mehr am Rande der Gesellschaft, sondern von dieser wahr- und ihre Mitte genommen würden. Ein Ziel, das im Übrigen auch der Ideenwettbewerb „Lebenswerte Kommune – Senioren mittendrin“ der Projektgruppe im Fokus gehabt habe. Seine Gewinner sollen im Laufe des Jahres auch auf einer öffentlichen Veranstaltung vorgestellt werden. Ina Berwanger

Artikel vom 03.03.2021
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